Shutdown in Mexiko-Stadt: Nicht “essenzielle” Wirtschaftsbereiche wie Gastronomie und Einzelhandel schließen. Grund: Die für Covid-19-Patienten vorgesehenen Krankenhausbetten der Metropole sind offiziellen Angaben zufolge zu 69 Prozent belegt.
Ein vor wenigen Tagen veröffentlichtes Foto der Tageszeitung La Jornada (Link zu Twitter) zeigt das ganze Ausmaß des Problems: In einer engen Gasse der Altstadt, gesäumt von Verkaufsständen links und rechts, stehen dicht gedrängt etliche Menschen – teils ohne Mundschutz und offenkundig ohne Mindestabstand. Ein Schild davor verkündet: „Nutzt die Gelegenheit, um 17 Uhr schließen wir.“
Die frühe Schließung der Geschäfte im historischen Zentrum, jetzt zur Weihnachtszeit das Ziel vieler Käufer, war eine der Maßnahmen, mit denen die Stadtregierung vor zwei Wochen auf die seit Längerem ansteigenden Corona-Zahlen reagierte (auch mit einem Alkoholverkaufsverbot am Wochenende). Ziel: Die offenbar hohe Mobilität in der Stadt reduzieren. Gebracht hat es offenbar wenig, wie das Foto zeigt.
Sheinbaum, Mazo, López-Gatell: Shutdown ab Samstag
Denn nun haben wir den Salat: Die Stadt und der sie umgebende Bundesstaat Mexiko sind zum Corona-Ampelmodus Rot gewechselt. Das bedeutet, dass nicht lebensnotwendige Betriebe und Aktivitäten eingeschränkt oder ausgesetzt werden.
Das teilten am Freitagmittag die Bürgermeisterin und Regierungschefin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, der Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, Alfredo del Mazo Maza, und der in der mexikanischen Regierung für die Corona-Pandemie zuständige Staatssekretär Hugo López-Gatell mit – letzterer ist so etwas wie der mexikanische RKI-Chef, der in der Regel jeden Abend live im Internet die neuesten Pandemiezahlen und -erkenntnisse verkündet.
Das mexikanische Ampelsystem: In Mexiko zeigen die Bundesstaaten mit einem “Semáforo” (Ampel) den Stand der Pandemie in ihren Territorien an. Die Ampel richtet sich nach der Krankenhausbelegung: Je höher diese, desto dunkler die “Semáforo de riesgo epidemiológico “, wie das Modell offiziell heißt. Steht diese daher auf Rot, werden teils deutliche Einschnitte im öffentlichen Leben vorgenommen, um die Krankenhäuser zu entlasten. Steht sie auf Grün, sind die Infektionszahlen anscheinend niedrig, und das öffentliche Leben kann, muss aber nicht, nicht mehr eingeschränkt sein. So sind in den zwei einzigen Bundesstaaten, die auf Grün stehen (Chiapas und Campeche), weiterhin die Schulen geschlossen. Das Ampelsystem wird alle zwei Wochen landesweit aktualisiert. Mexiko-Stadt stand nach Einführung der Ampel Anfang Juni 2020 eine Zeitlang auf Orange, “heller” wurde es seitdem nie. Mehr Infos zu den landesweiten Zahlen gibt es hier.
Schon die Dreier-Konferenz der drei Entscheidungsträger war ungewöhnlich, ebenso dass alle drei Masken trugen – ein deutliches Zeichen an die Bevölkerung. Am Donnerstag zählte Mexiko-Stadt rund 34.000 aktive Infektionsfälle, 1000 mehr als am Vortag. 174 Todesfälle im Stadtgebiet wurden an diesem Tag gemeldet, insgesamt sind hier seit Pandemiebeginn 19.500 Menschen an Covid-19 gestorben. Tatsächlich dürften die Zahlen weitaus höher liegen, so die durchgehende Meinung in unserem Umkreis. Ein Bericht der New York Times im Mai 2020, der drei Mal mehr Tote in Mexiko-Stadt meldete als offiziell gemeldet, schlug hohe Wellen. Erst vor wenigen Tagen kam eine behördliche Antikörper-Erhebung zum Schluss, dass mutmaßlich ein Viertel der 120 Millionen Mexikaner bereits mit dem Corona-Virus infiziert war.
Was der neue Shutdown für die Chilangos, die Bewohner von Mexiko-Stadt, und Expats wie uns bedeutet? Wir können ab diesem Samstag wohl (eigentlich sicher, aber es gibt ja immer Ausnahmen …) keine Klamotten mehr in den schicken Einkaufstempeln aussuchen, einen Kinofilm mit Popcorn anschauen, im Restaurant eine leckere Sopa de Tortilla genießen, oder im Park spazieren oder skaten. Denn all das hatte die Stadt ab Juli sukzessive zugelassen, nachdem die erste Welle die Ciudad de México rund drei Monate lang in einen echten Shutdown gezwängt hatte – anders als in Europa aber nie mit einer zusätzlichen Ausgangssperre.
Das Gefühl kam auf, eine Art „neue Normalität“ genießen zu können, wie ihr hier in meinem Blog nachlesen könnt. Und da auch die Strände nach teils monatelanger Sperrung wieder zugänglich gemacht wurden, war auch der Strandbesuch am Pazifik oder der Karibik möglich – immer auch mit Abstand und Maske im Hotel.
Doch dieses Gefühl war und ist trügerisch. Seit Juni sind die Zahlen nie wirklich auf ein Minimum abgefallen, selbst Anfang Oktober waren es täglich rund 5000 Neuinfektionen und 300 Tote im ganzen Land.
Unsere Kinder sind seit März 2020 im virtuellen Unterricht “gefangen”, das wird sich voraussichtlich auch nicht so schnell ändern. In Geschäften, an bestimmten öffentlichen Plätzen, in Sportanlagen und in Transportmitteln ist die Maske eh seit Monaten Pflicht – und wer Sport macht, weiß wie anstrengend das sein kann. Es ist wie fünf Kilometer den Berg hochlaufen. Restaurants haben eingeschränkte Platzangebote, längst nicht alle Museen und Parks haben wiedereröffnet.
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Offen bleiben also ab diesem Samstag „essentielle“ Sektoren, wie Werkstätten, Supermärkte, Apotheken, der Bau- und Finanzsektor oder Verkehr und Sicherheit (aktuelle Details gibt es hier).
Aber die Realität ist hier in Mexiko-Stadt eh anders: Schon während der ersten Welle war offiziell vieles geschlossen, während tatsächlich zum Beispiel in unserem Viertel der Friseur weiterhin seine Dienste anbot, der Straßenhändler seinen Stand beibehielt, die Werkstatt offen blieb. Das Tragen einer Maske beispielsweise hat sich mittlerweile durchgesetzt, aber dann siehst du im Friseurladen, wie der Besitzer seine herunterzieht, um mit seiner Kassiererin zu sprechen – nah an nah. Immerhin, mein Friseur behielt sie durchgehend an, während er meine Haare stutzte. Was ist mit den Marktständen auf den Straßen, die Spielzeug anbieten? Mit dem Orangenverkäufer, der frisch gepresste Säfte anbietet? Und das Werbebüro, das Kaufhaus, der Buchhandel?
Der Verband der Fitnessclubs hat zwar vorsorglich die Schließung seiner Anlagen angekündigt, aber unter Protest: Eigentlich seien die Clubs ja “essentiell”, da sie die Gesundheit des Körpers fördern. Und die Liste an Ausnahmen erlaubt beispielsweise “kleinen Läden in Stadtvierteln mit nicht mehr als drei Angestellten”, weiterhin offen zu bleiben. Fällt darunter der Friseur? Und der Orangenverkäufer dürfte laut der Liste strenggenommen nicht mehr werkeln, da er auf der Straße “Lebensmittel” zubereitet. Aber darf er fertig gepresste Säfte abgepackt anbieten?
Maske? Stört beim Reden
Bin daher gespannt, ob die Leute sich an die Bitte der Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum halten werden, auf Feste und Familienfeiern zu verzichten. Oder auf Abstand zu bleiben. Das ist, wenn du einen Spaziergang durch unser Viertel machst, auf den ersten Blick bislang nicht immer wirklich der Fall. Im Oktober fuhr ich mit dem Rad an einem Laden vorbei, in der Nähe. Drinnen: Party, Musik, Menschen dichtgedrängt aneinander, ohne Maske. Und das in einem Land, in dem oft Opa und Oma unter einem Dach mit den Enkeln leben …
Bis zum 10. Januar sollen nun ein Großteil der Geschäfte und Restaurants geschlossen bleiben (Essen bestellen und abholen beziehungsweise liefern lassen bleibt aber erlaubt). Zugleich wird die Anzahl der Betten in den Krankenhäusern deutlich ausgebaut, am Freitag waren die Hospitäler zu 75 Prozent belegt. Selbst private Krankenhäuser melden einem Medienbericht zufolge: Wir sind dicht.
Warten wir also ab, wie sich die Situation entwickelt. Hoffentlich zum Besseren.
mc/voyyestoy.com
Mobilität und Party: Warum Mexiko-Stadt keine Ausgangssperre kennt
Warum machen wir nicht die Stadt einfach zu, wenn die Zahlen so hoch sind? Spanien hat zum Beispiel im Herbst ganze Städte abgeriegelt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Und im Frühjahr durften die Spanier ihr Haus nur aus besonderen Gründen verlassen. Der Grund ist: Dafür fehlt hier das Geld. Es gibt keine vergleichbare Sozialversicherung wie in Europa. Wer hier seinen Job verliert, muss nicht selten zusehen, wie er selbst klarkommt. Zu Hause bleiben? “O me muero de hambre o del Covid”, ist ein geläufiger Spruch. Entweder sterbe ich an Hunger oder an Covid. Menschen verkaufen auf der Straße, bieten Kurierdienstleistungen an, eröffnen in der eigenen Hausgarage ihren eigenen Kleinladen. Das war schon vor Corona so, ich erinnere mich an eine Erhebung, wonach bis zu 43 Prozent der mexikanischen Bevölkerung als arm gelten. Im Supermarkt kann man zum Beispiel an Weihnachten “Despensas” kaufen – zusammengestellte Lebensmittelpakete mit Konserven zum verschenken oder spenden.
Tatsächlich bedeutet die faktisch fehlende staatliche Vorsorge (wobei es durchaus Zuwendungen gibt), dass finanziell benachteiligte Menschen auf eigene Reserven, Geschäftsideen und soziale Netzwerke wie Familien zurückgreifen müssen, um diese Pandemie durchzustehen. Und umgekehrt die, die es brauchen, finanziell zu unterstützen: Die in Mittelschichtsfamilien übliche Señora de limpieza (die “Reinigungskraft”), wie wir sie auch beschäftigen, soll daher aus Infektionsgründen nicht kommen, wird aber weiter bezahlt – nicht immer hier selbstverständlich …
Wochenlang hatte die Stadt trotz gegenteiliger Mahnungen angesichts der steigenden Krankenhauszahlen auf einen wirtschaftlichen Shutdown verzichtet. Es gab und gibt keine Ausgangssperren oder Abriegelung von Covid-19-Hotspots in der Stadt. Ich hatte wie wahrscheinlich so viele mit dem “Semáforo rojo” ja schon vor Wochen gerechnet. Schon seit Wochen frotzelten Internetuser, dass die Stadtregierung bei ihrer wöchentlichen Analyse des Pandemiegeschehens offenbar die verschiedensten Farbtöne von Orange ausprobiere, um bloß nicht “Rot” schreiben zu müssen … bezeichnend, dass der Wechsel von der orangenen Warnampel zur roten erst zum Ende des wirtschaftlich wichtigen Weihnachtsgeschäfts erfolgte.
Dazu kommt: Medienberichte zeigten in den vergangenen Wochen eine hohe Mobilität im vorweihnachtlichen Mexiko-Stadt auf – nicht nur weil die Menschen auf Geschenkesuche gingen. Wir alle, uns eingeschlossen, waren in dieser Stadt Corona-müde, wollten ein bisschen feiern, sich treffen. Es fiel auf, wie im Bekanntenkreis die Zahl an Treffen, ob im Restaurant oder zu Hause, zunahm. Der Verkehr ist gefühlt oft auf Vor-Corona-Niveau, was in Mexiko-Stadt gleichzusetzen ist mit Stau (im Frühjahr waren die Straßen leer, da konnte ich mit dem Rad alleine die Hauptstraßen genießen). Verständlich. Doch all das scheint die Zahlen mit nach oben getrieben zu haben. Die Stadt hat daher ab diesen Samstag auch explizit jegliche öffentliche Feiern wie die “Posadas”, die gerade in der Weihnachtszeit populär sind (und bei denen die Suche Marías und Josefs nach einer Unterkunft dargestellt wird), untersagt. Und die hauptstädtische Kirche hat angekündigt, keine öffentliche Messe mehr abzuhalten.
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