Mehrere Menschen sind bei einer mutmaßlichen Amokfahrt in meiner Wahlheimat Trier getötet worden. Wir sind schockiert. Warum aber löst die alltägliche Gewalt hier in Mexiko-Stadt oft nur ein resigniertes Hinnehmen aus? Informationen zur Gewaltspirale in der Ciudad de México.

Es spricht viel zur Sicherheitslage in Deutschland, dass eine brutale Tat landesweit beachtet wird und die Menschen erschüttert. Vielleicht weil gerade Verbrechen in Deutschland, vorsätzlich oder im Affekt, relativ gesehen nur im kleinen Ausmaß geschehen, sorgt eine Nachricht wie die aus Trier für Entsetzen (die aktuelle Situation in Trier könnt ihr im Liveticker meiner früheren Kollegen vom Trierischen Volksfreund nachlesen).

Auch wir waren hier am frühen Dienstagmorgen betroffen, telefonierten und mailten besorgt, ob Freunde und Bekannte wohlauf seien. Videos tauchten auf, zeigten die uns bekannten Straßen. Eine frühere Kollegin schreibt sinngemäß, dass ja eher Mexiko-Stadt nicht so sicher sei. Nicht so wie Trier.

Das stimmt. Es ist zwar nicht so, dass wir hier verbarrikadiert in Todesangst in unserem Wohnviertel ausharren und nur mit Bodyguards ausgehen. Der Alltag hier ist relativ frei, ich fahr Fahrrad, gehe in verschiedenen Vierteln einkaufen, nehme die Metro. Auch meine Frau fährt mit dem Rad zur Arbeit. In der Natur sind wir auch unterwegs, teils auf einsamen Wegen.

Doch das heißt nicht, dass es Gewalt nicht gibt. Viele Mexikaner wissen ihre eigenen Erfahrungen zu berichten. Wir sind zum Glück zwar noch nie überfallen oder bedroht worden. Vergangenes Jahr aber war ich auf einem Radweg in einer als unsicher gelten Colonia Richtung Norden unterwegs. Beim Durchfahren dachte ich noch, mmh, besser schnell hier durch. Später, zu Hause, lese ich in einer Facebook-Gruppe mexikanischer Radfreunde, dass Stunden vor mir eben dort eine Radfahrerin von zwei Männern gestoppt und um ihr Rad erleichtert wurde – gefolgt von User-Kommentaren wie „Ist mir da auch schon passiert.“

Vor allem aber: Die Gewaltmeldungen schocken die Menschen hier anscheinend kaum noch. Regelmäßig berichten Medien über ermordete Polizisten, Reportern, rivalisierenden Bandenmitgliedern, Feminiziden und anderen Formen von Gewalt an Frauen im Land. Die Reaktion: Resignation, Achselzucken, zur Kenntnis nehmen. „Así es lamentablemente“, so ist es leider. Unvergessen bleibt zwar zum Beispiel die Tragödie um die 43 bis heute verschwundenen Studenten einer Lehrerschule aus Ayotzinapa im ärmlichen Süden des Landes. Oder die jährlichen Proteste gegen die Frauenmorde, 3000 alleine im vergangenen Jahr. Immer wieder erhebt sich Protest, doch er verebbt dann wieder.

Das hier in Mexiko-Stadt vergangene Woche in der Nachbarschaft ein bewaffnetes Kommando eine Familie überfallen und bedroht hat, dass zwei Wochen zuvor in meinem Stadtviertel unbekannte Killer einen Partygänger gezielt ermordet haben, oder dass – wie neulich geschehen – mitten im Zentrum ein Mann mit einem Transportroller überrascht wurde, in welchem die zerstückelten Leichenteile zweier Jugendlicher – offenbar Mitglieder einer Bande – lagen (er sollte sie wohl wegbringen), das nehmen wir jedes Mal längst nicht so wahr, und wenn dann sogar mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Ebenso die Morde und sonstigen Verbrechen außerhalb der Stadt wie 2019 das Massaker hoch im Norden an zwei Mormonen-Familien oder der Überfall auf eine Bar im Bundesstaat Guanajuato. Warum?

Tatsächlich sind die Zahlen in Mexiko erschreckend hoch – und das seit Jahren.

Seit Jahren vermelden die Behörden immer wieder neue Spitzenwerte. Für 2020 prognostizieren sie einen weiteren Rekord, mit über 40.000 Morden, so ein Bericht der mexikanischen Forbes. 2019 seien es 37.000 Morde gewesen.

Aufmerksamkeit erregen letztlich nur noch besondere Einzelfälle wie die an eine Bürgerkriegsszene erinnernde gescheiterte Festnahme eines Drogenbaron-Sohns in der Stadt Culiacán, der Fall des 2019 aus Geldgier entführten und hinterhältig ermordeten Studenten der privaten „Universidad del Pedregal“ in unserer Nähe, die erst kürzliche Tötung eines französischen Café-Besitzers aus dem noblen Stadtteil Polanco, die perfide Hinrichtung der zweifachen Mutter Abril 2019 durch Auftragskiller, ausgerechnet an einem Gedenktag gegen Gewalt gegen Frauen und offenbar im Auftrag ihres Ex-Mannes. Und schließlich im ländlich geprägten Südosten der Stadt die Entführung und Tötung der siebenjährigen Fátima im Februar 2020. Das flüchtige Täterpaar flog nur auf, weil die Tante des Mörders zur Polizei ging.

Generell lässt sich die Gewalt in Mexiko-Stadt und Mexiko wie folgt unterscheiden:

  • Drogenkartelle und anderen Gruppen organisierter Kriminalität bekämpfen sich untereinander oder agieren gegen die Polizei und das Militär, die wiederum Menschenrechtsverletzungen begangen haben sollen. In der Regel bekommt man davon als Expat außer an Kontrollstellen von Militärs und dörflicher Miliz im ländlichen Gebiet nichts mit. Aber es gibt in Mexiko Gebiete, die man wegen eben dieser Auseinandersetzungen nicht aufsuchen sollte – zum Beispiel die Tierra Caliente im Südwesten des Bundesstaates Michoacán. Auch in Mexiko-Stadt gibt es diese Revierkämpfe, unterbrochen durch wiederholte Festnahmen. Eine besondere Rolle spielt dabei das Schmugglerviertel Tepito nördlich der Altstadt, Hort eines gleichnamigen Kartells.
  • Zum Täter wird auch der Ehemann oder der junge Lebenspartner, der seine eigene Frau oder Freundin verletzt oder tötet, aus Stolz, Eifersucht oder schlichtweg männlichem Überheblichkeitsgefühl (siehe der Fall Abril). Dabei wurden Frauen oft ein zweites Mal zum Opfer, weil sensationsgeile Medien ihre entstellten Körper zur Schau stellten oder/und dem Täter eine Bühne liefern. Frauen, Kinder und Jugendliche sind auf den Straßen (zu Fuß) ebenfalls nicht immer alleine unterwegs, aus Furcht, Opfer eines Überfalls oder Entführung zu werden. Panikknöpfe an Strom- und Telefonmasten sollen schnelle Hilfe gewährleisten. Tatsächlich ist Mexiko, das Land des Machismo, noch weit entfernt vom Sicherheitszustand in Europa.
  • Zum Opfer werden auch wiederholt Medienmacher, die zwischen diese Fronten geraten. Erst kürzlich starb ein Reporter nördlich der Hauptstadt im Bundesstaat Guanajuato, als er die Leiche eines Opfers fotografieren wollte – und dabei selbst von Heckenschützen kaltblütig hingerichtet wurde. Mexiko gilt als gefährliches Land für Journalisten.
  • Und schließlich gibt es die kleinen Gauner auf der Straße, die skrupellos und ohne zu zögern bereit sind, Gewalt anzuwenden, um ihre Beute zu erhalten – weswegen für Auswärtige immer die Empfehlung ausgesprochen wird, bei einem Überfall zu kooperieren statt den Helden zu spielen. Immer wieder lese ich beispielsweise von Überfällen in Kleinbussen der Stadt, bei denen Passagiere verletzt oder getötet werden. Vom normalen Raub ganz zu schweigen: 2019 bestellte ich via Uber ein Taxi im Zentrum der Stadt. Als ich zustieg, bat der Fahrer um Bargeld statt der üblichen Bezahlung via App. Er sei kurz zuvor in ein Stadtviertel gelockt und ausgeraubt worden. Als die Frau, die seinen Wagen bestellt hatte, einstieg, kletterten gleich zwei Männer dazu und nahmen den Uber-Fahrer aus. Ein anderer Fahrer erzählte mir neulich, er lehne mittlerweile Fahrten in bestimmte Stadtviertel ab.

Es ist vor allem diese Kleinkriminalität in Verbindung mit der Gewalt, die jeden „Chilango“ und jede „Chilanga“, die Bewohner von Mexiko-Stadt, in ihren Alltagsbewegungen beeinflusst. Wie man sich zumindest dagegen schützt, lest ihr weiter unten.

Das Problem mit der ausufernden „violencia“ (Gewalt, spanisch): Die Täter kommen oft ungestraft davon. Vergewaltigungsopfer gehen nicht zur Polizei, weil sie das Gefühl haben, keine Hilfe zu erhalten. Vermisste können erst nach Ablauf einer Frist als solche bei den Behörden registriert werden – für die Angehörigen nicht nachvollziehbar. Und wird ein Tatverdächtiger gefasst, kann viel Zeit vergehen, ehe es zur Anklage oder Verurteilung durch das ineffiziente Gerichtswesen kommt – sofern er oder sie nicht schon vorher wieder freikommt. Korruption behindert die Arbeit. Eine Freundin meinte mal zu einem Ermittlungsfall in etwa: „Kennst du nicht den oder den bei der Polizei, kannst du lange warten, bis dein Fall angegangen wird.“

Weil die Aufklärungsarbeit so wenig erfolgreich ist, greifen die Menschen zur Selbstjustiz: In vielen „Barrios“ von Mexiko-Stadt entdecke ich Transparente, die potenzielle Diebe und Mörder abschrecken sollen. Die Worte sind eindeutig: Wenn wir dich erwischen, Rata (=Ratte, spanisch), übergeben wir dich nicht den Behörden. Sondern erledigen die Bestrafung selber.

Das ist keine leere Drohgebärde: Tatsächlich gab es in der Zeit, die wir hier sind, rund um Mexiko-Stadt mehrere Fälle tödlicher Lynchjustiz in umliegenden Dörfern. In mindestens einem Fall kamen dabei Unschuldige ums Leben. Auch in Mexiko-Stadt, speziell im verarmten und übervölkerten Norden des Ballungsgebiets, ist immer wieder die Rede von „Ajusticieros“ – selbsternannten Robin Hoods, die sich den „Ratas“ entgegenstellen und Selbstjustiz ausüben.

Zum Meme entwickelte sich hingegen der beherzte Einsatz mehrerer Passagiere eines Kleinbusses im Norden der Hauptstadt im August 2020. Als eine „Rata“ zustieg und Geld einforderte, stürzte er in einem Moment der Unachtsamkeit. Vier Passagiere stürzten sich auf ihn und prügelten ihn windelweich, bis sie ihn ohne Hose rauswarfen. Ihre Tat feierten die „Chilangos“. Doch andere solcher Vorfälle enden für Passagiere tödlich – zum Leidwesen ihrer Angehörigen.

Auch in Trier müssen die Familien der fünf Todesopfer der Amokfahrt vom 1. Dezember 2020 damit kämpfen, dass ihr Angehöriger nur kurz was einkaufen oder erledigen wollte und nicht mehr zurückkam.

Wie schützt man sich? Hier meine Tipps:

1. Mann/Frau trägt soweit vermeidbar keinen Schmuck oder andere Wertgegenstände sichtbar am Körper. Sportler achten darauf, ebenfalls teures Gimmick nicht mitzuführen, wenn sie auf den Straßen unterwegs sind.

2. An Geldautomaten oder in Bankfilialien immer darauf achten, wer sich dort sonst tummelt. Wer lieber in bar bezahlt: Händler an den Straßen können große Scheine (500 Pesos=25 Euro) immer wieder nicht umtauschen, deswegen Kleingeld bereithalten. Taxis an der Straße nicht anhalten, sondern entweder an einem der Festplätze der Taxis aufsuchen oder direkt einen App-basierten Fahrdienst wie Uber nutzen.

3. Bei Anrufen unbekannter Rufnummern wird nie der Name genannt, sondern ein unverdächtiges „¿Diga?“ (Sagen Sie mir?). Noch besser: bei unbekannten Nummern gar nicht erst annehmen. Solche Anrufe könnten durch geschickte Fragen der Anrufer auch Erpressungen zum Ziel haben, indem den Angerufenen die Notlage eines Angehörigen vorgegaukelt wird – oder, auch schon passiert, eine Entführung.

5. Wenn man in einem abgeschlossenen Wohngebiet wohnt, kommen Besucher und Dienstleister nicht einfach so rein, sondern müssen sich anmelden oder einen Ausweis vorlegen. Das gilt auch für Behörden, Firmen und Mehrfamilienhäusern, die je nach Status einen Pförtner am Eingang haben. Grundsätzlich gilt auch: Fremden nicht erzählen, wo man wohnt, oder wieviel man verdient.

6. Im Autoverkehr Fenster an Kreuzungen und Stopps geschlossen halten. Je nach Umfeld freuen sich Fensterputzer oder Straßenkünstler aber über eine kleine Geldspende für ihre Dienstleistung oder Show. Deswegen Kleingeld im Auto bereithalten.

7. In der Geldbörse nimmt man das mit, was notwendig ist. Bargeld in hohen Mengen oder die Kreditkarte nicht notwendig? Dann kommen sie auch nicht mit.

8. Wie umgehen mit einer Polizeikontrolle? Entweder hat man was verbrochen, dann sollte man auf die übliche Schmiergeldzahlung verzichten und einen Gang zum zuständigen Kommissariat verlangen – worauf Streifenpolizisten eher keine Lust haben werden. Oder, wenn ungerechtfertigt, nicht auf verstecke Schmiergeldforderungen eingehen und erst recht auf den Gang bestehen – denn dieser Behördengang kostet Zeit. Aufpassen, dass einem während der Kontrolle nicht irgendwas Belastendes untergeschoben wird. Zur Anmerkung: Polizisten in Mexiko verdienen verschiedenen Quellen zufolge etwa 500 Euro im Monat.

9. Keine Kreditkarte, aber auch keine Originalausweise: Zur Not reicht eine Kopie oder ein Foto auf dem Handy. Den Reisepass oder den Führerschein kann man ersetzen, falls man ihn aus der Hand geben sollte.

8. Und die wichtigste Regel: Solltet ihr doch Opfer eines Raubüberfalls werden, solllte man sich nicht wehren, sondern bereitwillig rausrücken was verlangt wird – egal ob Autoschlüssel, Geldbörse oder Laptop. Eine Ausnahme stellt eine Entführung dar mit Gefahr für einen selbst.

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