An einer langen Absperrung auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt, stehen derzeit weibliche Namen. Es sind hunderte, vielleicht sogar tausende – als Mahnmal für die vielen Frauen, die in Mexiko alljährlich ermordet werden.
Die Frauen protestieren. Sie füllen die Straßen der Innenstadt, sie fordern lautstark ihre Rechte ein und protestieren gegen die Gewalt durch wütende Ehemänner, eifersüchtige Liebhaber oder verschmähte Freunde. 2020 ist das, am 8. März Weltfrauentag.
Ein Jahr später demonstrieren wieder Frauen in Mexiko-Stadt. Sie haben allen Grund dazu, trotz oder gerade wegen der Corona-Beschränkungen: Laut eines aktuellen Medienberichts sterben täglich zehn Frauen in Mexiko durch Gewalteinwirkung. 2019 waren es über 3000 Frauenmorde.
Etwa ein Drittel Fälle werden von den Behörden als „Feminicidios“ eingestuft, als Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Für Mexiko-Stadt wurden 2019 72 solcher Gewaltverbrechen registriert, 2020 waren es laut aktuellen Zahlen 66 Fälle. Der „Feminicidio“ ist in Mexiko seit 2012 im Strafgesetzbuch verankert, auf ihn stehen 40 bis 50 Jahre Haft. In der Theorie. In der Realiät werden viele Täter oft nicht belangt.
Nationalpalast: Absperrungen auf dem Zócalo
Am 8. März 2021 zieht mittags also wieder ein weiblicher Protestzug (Männer dürfen nicht teilnehmen) durch die Innenstadt zum Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt. 2020 waren dabei vereinzelt auch Schaufenster eingeschlagen sowie Denkmäler und Fassaden beschmiert worden. Deswegen haben die Behörden nun öffentliche Gebäude abgeschirmt – aus Furcht vor Vandalismus seitens der Demonstrantinnen.
Dabei sind solche Absperrungen hier in Mexiko-Stadt gar nicht so unüblich, der Zócalo selbst ist regelmäßig Schauplatz größerer Demonstrationen. Aber eine solch hohe und lange Mauer dort wie derzeit habe ich so noch nicht hier erlebt: Seit Freitag schirmen hohe Schutzwände den imposanten und langgestreckten Nationalpalast sowie mittlerweile auch die benachbarte Kathedrale ab.
Auch der „Palast der Schönen Künste“ (Palacio de Bellas Artes) und das Denkmal zu Ehren von Nationalheld Benito Juárez, beide am Demonstrationsweg gelegen, sind entsprechend verriegelt worden.
Das wiederum hat Frauenrechtlerinnen aber nicht abgeschreckt, im Gegenteil: Sie haben etliche Namen an die dunkle Mauer am Zócalo geschrieben: Eugenia, Corina, Miriam oder Fatima. „Víctimas de Feminicidio“ steht darüber, Opfer von Feminiziden. Frauenmorde. Dazwischen leuchten violette Bänder, Blumen sind angebracht, Kreuze wechseln sich ab. Ab und an sind Plakate mit Forderungen angebracht.
Ermordet, weil sie den Mann verlassen hatte
Als Betrachter wirkt diese vollgeschriebene Mauer wie ein erschütterndes Mahnmal an die vielen „Víctimas“ und angesichts des dahinterliegenden Nationalpalastes wie eine Anklage an den Staat. Die einstige Residenz der spanischen Vizekönige ist der Amtssitz der mexikanischen Präsidenten, vom zentralen Balkon wird an jedem 15. September an die Helden des Unabhängigkeitskrieges und später im November an die der Revolution erinnert. Jetzt erinnern die Namen an der Mauer an die Toten der Moderne.
An einer der etwa einen Meter breiten Schutzwände stehen beispielsweise die vollen Namen von Jacqueline, Brenda und Sofia. So hießen eine Mutter und ihre zwei Kinder, die 2019 von ihrem Ex-Mann in Naucalpan, einer Stadt im Ballungsgebiet, ermordet worden waren. Jacqueline hatte den Vater ihrer Kinder verlassen. Als sie Medienberichten zufolge mit ihrem Ex Fragen zur Betreuung der Kinder klären wollte, brachte er sie alle um.
Nicht weit entfernt hat jemand den Namen „Fatima“ auf ein Kreuz geschrieben, das an der Absperrung klebt. Es erinnert wohl an das siebenjährige Kind, dass in Mexiko-Stadt von einem Paar entführt und getötet worden war. Der Fall hatte für Entsetzen gesorgt.
Ein Denkmal für die Opfer
Kamerateams ziehen vorbei, Passanten fotografieren und filmen. Vor der Kathedrale schreiben junge Frauen weitere Namen an die dortigen Mauerabschnitte. Je länger man an dieser Mauer steht, und die nur vorübergehend aufgebaut worden ist, desto mehr nimmt man wahr, wie viele Einzelschicksale sich hinter jedem Namen verstecken. „Ni una más“, skandieren oft Feministinnen bei Protesten. Nicht eine mehr. Aber kommt diese energische Forderung auch bei allen Männern in dieser Stadt und diesem Land an?
Der Weg zum Zócalo hatte mich zuvor am Palacio de Bellas Artes vorbeigeführt. Ein etwa drei Meter hohes Frauensymbol erinnert hier schon seit längerem an die Gewalt gegen Frauen.
An üblichen Werktagen geht das Mahnmal fast im Passantenstrom unter, aber heute war es von Demonstrantinnen umgeben, die mit Musik und Vorträgen die Straße vor dem Symbol blockiert hatten. Auch sie schrieben Namen und Parolen an die Schutzwand vor dem Palacio.
Das Frauensymbol vor dem Palast der Schönen Künste wird auch nach dem Weltfrauentag weiterhin an die vielen Opfer eifersüchtiger oder wütender Männer erinnern, nachdem die provisorisch angebrachten Mauern auf dem Zócalo abgeräumt sein dürften. An der dunklen Wand auf dem Zócalo erinnert solange ein Plakat daran, im Bemühen um mehr Gleichheit und Strafverfolgung nicht aufzugeben: „La lucha no ha terminado“, steht auf dem Zettel. Der Kampf hat noch nicht aufgehört. Miguel Castro