Tabaré Alonso aus Uruguay ist mit seinem Rad auf dem Weg nach Alaska – ein Traum, der wegen der Pandemie einen Stopp in Mexiko-Stadt erzwang. Ich hatte das Glück, ihn hier zu sprechen. Über seine „Amerika“ und die Menschen, die er auf seiner Reise traf.
„Wollen wir die Fahrräder tauschen?“ Tabaré hält mir seine „América“ hin, während wir uns in Richtung eines nahegelegenen Cafés bewegen, nachdem wir uns auf der Plaza de la República im Zentrum vom Mexiko-Stadt getroffen haben. Ich hatte zuvor schon viele Fotos dieses weißen Fahrrads von Tabaré in den Sozialen Medien gesehen, und immer wirkte sie ordentlich gepackt.
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Und so ist es tatsächlich: Ein Schild klebt vorne dran, ein weiteres hinten. Am Lenker ist eine Quietscheente befestigt, davor hängt ein Korb. Und hinter dem Sitz ist ein schwerer Rucksack angebracht.
Ich bin mit meinem eigenen Rad zum Treffpunkt gefahren, unterhalb des enormen Denkmals für die mexikanische Revolution vor 110 Jahren. Der Platz ist groß, einstmals sollte hier der neue Sitz des mexikanischen Parlaments entstehen. Daraus wurde zwar nichts, aber der bereits im Bau befindliche zentrale Kuppelbau verwandelte sich in das heutige Revolutionsmonument.
Treffen mit dem Fahrrad
Ich setze mich auf das Gefährt, für Sekunden fühle ich mich wie ein Weltenbummer. So ist das also. Die „América“ hat Tabaré über tausende Kilometer durch Süd- und Mittelamerika transportiert, seit er 2016 von seinem Heimatort in Uruguay gestartet war. Mit fällt der Film „Die Reise des Che“ ein, sie handelt von der Tour des jungen Ernesto Guevara und späteren kubanischen Revolutionshelden in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch Argentinien, Chile und Perú, per Motorrad und zu Fuß über unbefestigte Straßen.
Tabaré Alonso ist kein Revolutionär. Aber seine Reise hat auch ihn geprägt, so wie vielleicht den Che oder andere Weltenreisende in einem bestimmten Moment.
Wir rollen vom Platz herunter, das Fahrrad wackelt unter dem angehängten Gewicht (auch unter meinem?!), die Bremsen greifen nicht sofort. Tabaré schaut herüber, während er auf meinen Rad herunterrollt. „Los frenos…“, die Bremsen. Und ich denke: Damit ist er von Uruguay bis Mexiko geradelt? Alter, Respekt! Gegen Tabarés Tour fühlt sich meine 20-Kilometer-Tour zum Treffpunkt wie ein Gang zum Bäcker.
Später, als wir einen Kaffee trinken, frage ich Tabaré ob ihn seine „América“ mal im Stich gelassen habe. „Mil veces“, antwortet er. Tausende Male. Es sei halt ein Fahrrad, um beim Bäcker Brot zu holen … in einer späteren Nachricht nach dem Treffen erklärt er mir, dass „es ein sehr normales Rad ist. Etwas schwach und von der Stange, also eine der günstigen“. Und das immer das kaputt gehe, was „normal“ sei: die Speichen, die Achse, die Reifen. Aber hier ist er, tausende Kilometer von seinem Startpunkt entfernt.
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Weltenbummler Tabaré Alonso: Manchmal willkommen, manchmal misstrauisch beäugt
Tabaré ist mit seiner „América“ auf seiner jahrelangen Tour von seiner Heimat Uruguay Richtung Alaska durch mehrere Staaten und Regionen gereist. Dabei muss man sich das nicht wie den europäischen Jakobsweg oder deutsche Wanderstrecken als eine Tour mit guter Infrastruktur vorstellen. Es ging über Gebirge, Wüsten, Dschungel und entlegene Gebiete, in Argentinien, Chile, Bolivien, Perú, Kolumbien, Panamá, Costa Rica, Nicaragua. Selbst in Venezuela war Tabaré unterwegs
Mal wurde er herzlich aufgenommen und unterstützt, dann, erzählt er, wieder als Dieb, Vagabund, Faulenzer betrachtet. Und einmal sogar als Kinderfänger angeprangert.
In seinem Buch (mehr dazu siehe unten) beschreibt der 33-Jährige verschiedene Erlebnisse auf seiner Tour: Wie er mal an einer abgelegenen Heißwasserquelle mutterseelenallein nachts übernachtet und am nächsten Morgen „flüchtet“, weil er das Gefühl hat, permanent beobachtet zu werden. Mit der „Bestia“, den mexikanischen Güterzügen, die zentralamerikanischen Migranten als Transportmittel dienen, reist er Richtung Süden, um wegen eines mexikanischen Visums kurz auszureisen – und trifft dabei auf Wanderer, die in die USA wollten und nun in ihre Heimat zurückkehren.
Aber es ist eine Reise, die auch positive Geschichten kennt: Einmal ist Tabaré in einem Dorf unterwegs, als ein Pick-up neben ihm anhält und der Fahrer ihn zum Essen einlädt. Tabaré ist misstrauisch, er befürchtet eine Falle. Am Ende stellt sich heraus: Der Fahrer ist ein „Granjero“, ein Landwirt aus der Region und einfach nur neugierig. Er lädt Tabaré zum Snack ein, gibt ihm ein Dach über dem Kopf, nennt ihm Freunde auf der Route.
Mexiko: Ein verlängerter Aufenthalt für Tabaré Alonso
Wäre nicht die Pandemie, und mit ihr zusammenhängend die bis heute anhaltende Sperrung der Grenze zwischen Mexiko und den USA, Tabaré könnte jetzt vielleicht Bären und den Schnee in Alaska beobachten, hoch im Norden des amerikanischen Kontinents. So aber ist der Uruguayer vor einem Jahr in Mexiko-Stadt gestrandet. Mit eigenem Kunsthandwerk bessert er seine Reisekasse auf. Er hat jüngst seine bisherigen Reiseerlebnisse als Buch veröffentlicht und bekommt Unterstützung von den Fahrradaktivisten der Stadt. Noch sucht er einen Sponsor für seine weitere Reise.. Weil sein Projekt weiterhin existiert: Ankommen in Alaska.
Ich frage Tabaré nach seinen ersten Eindrücken von Mexiko. Ein Kulturshock. Tabaré betritt das Land von Belize kommend im Karibik-Bundesstaat Quintana Roo – ausgerechnet eine touristische Zone, die sich Richtung Besucher aus USA, Kanada oder Europa orientiert. „Es war ein anderes México, das der Ausländer, und nur mit Geld konntest du ´experiencias´, Erfahrungen, erzielen. So wie sie dich sahen, so behandelten sie dich.“
Tabarés Tour: Instagram, Facebook und Buch
Wenn du sozusagen „live“ Tabarés Fahrt verfolgen willst:
Facebook: Seite von Tabaré
Instagram (tabarealonso)
Website (www.tabarealonso.com)
Youtube: Kanal von Tabaré Alonso
Sein Buch, Anfang 2021 veröffentlicht, ist in der Bierbrauerei „Quiero Chela“ (Nähe Plaza de la República), direkt bei ihm oder online als PDF erhältlich. Preis: 200 mexikanische Pesos (umgerechnet etwa 8 Euro). Eine empfehlenswerte Lektüre über Abenteuer und persönliche Gedanken, ergänzt um schwarz-weiß-Fotos.
Auf seinem Kopf trägt er eine Mütze mit dem Abbild einer Figur, die eines indigenen Gottes oder Kriegers. Es erinnert an den kulturellen Zusammenstoß von Mayas, Azteken und Europäern. Das Volk des letzten Herrschers der Azteken, Cuauhtémoc (gesprochen: Kwuau-témok), verlor seine Selbstständigkeit vor 500 Jahren im Kampf gegen die Spanier. Tenochtitlán (gesprochen: Tenotsch-titlan), die Metropole der Azteken, wurde zerstört, auf seinen Ruinen entstand das heutige Mexiko-Stadt.
Auch Tabaré Alonso erzählt mir vom Scheitern, Vertrauen und Selbstachtung. Er wollte raus aus der „vida circular“: Schule, Arbeit, Sport, ein Kreislauf. Der gelernte Informatiker hat einen Traum, auf seiner Reise Neues zu lernen. Doch es ist eine Herausforderung, die nicht immer zu bewältigen ist. Und Tabaré wollte auch schon seine Reise abbrechen.
Dabei hat man nicht den Eindruck im Gespräch, dass dieser junge Mann mal davor gewesen sei aufzugeben. Der Reisende aus dem Süden erscheint ruhig und ausgeglichen. Vielleicht gerade wegen seiner Erfahrungen? Später, als ich sein Buch zur Hand nehme, lese ich über Erlebnisse auf seiner Reise, die bei anderen eine Gänsehaut erzeugen würden. Aber Tabaré wirkt, als habe er sich nicht davon so sehr abschrecken lassen, um die Reise abzubrechen.
Ein Radfahrer aus Uruguay: Allein in Bolivien auf dem riesigen Meer aus Salz
Das erste Mal war das gar nicht so weit „weg“ von Uruguay, am Salar von Uyuni in Bolivien, auf 3600 Metern Höhe. Er hat ein immenses weißes „Meer“ – aus Salz – vor sich. „Me congelé“, gefroren habe er, erzählt Tabaré in der angenehmen Mittagswärme von Mexiko-Stadt. Er ist an dem Tag noch 50 Kilometer von seiner beabsichtigten Unterkunft entfernt, allein auf dem großen Salz-See, die Nacht steht an. Nach drei Stunden erreicht er sein Ziel. Tabaré schläft ohne was zu essen, „es war ein Moment des Bruchs“.
Aber am nächsten Morgen, die Sonne am Firmament, und den Blick auf das Salzplateau mit seinen 100 Kilometern Ost-West-Ausdehnung gerichtet, lässt Tabaré die Gedanken kreisen. Und kommt zum Schluss, „te gusta lo que haces“, wie er mir erzählt. Dir gefällt, was du tust. Tabaré fährt weiter.
Auch so sollte es nicht die letzte Episode der Zweifel bleiben. Zwei Mal wird sein Fahrrad geklaut. Im vorigen Jahr stirbt Tabarés Vater, während der Sohn in Mexiko festsitzt. Ihm hat der Radfahrer ein eigenes Kapitel in seinem Buch gewidmet. Das Knüpfen von Armbändern zum Verkauf habe er „aus Hunger“ lernen müssen.
Auf einer späteren Tour radelt er an einem Küstenabschnitt entlang, vor dem ihn Freunde gewarnt haben, weil er von Kriminellen beherrscht werde. An einer Kontrolle zeigt er sein mitgeführtes Bild der Jungfrau von Guadalupe, Mexikos Nationalheiliger. Die „Narcos“ lassen ihn unbehelligt – Freunde hatten ihm zuvor geraten, die Jungfrau mit sich zu führen. „Un ciclista loco“, ein verrückter Radfahrer, hätten die Männer an der Sperre gesagt. Er darf weiterfahren.
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Wie lange noch wird seine Reise dauern, wann kommt er an? Das ist ihm noch unklar. Weil hier, vor mir, jemand sitzt, der erkennbar Spaß an seiner Reise hat. Ein Entdecker. Und so erzählt es Tabaré auch in seinem Buch. Seine Welt: „gigantisch“. Was ihn inspiriert, sind die Menschen die er auf seiner Reise trifft. Etwa die „Guerillera“, eine Frau die ihm zeigte, die Armbänder zu verkaufen und Essen für Bedürftige zu sammeln. Auf der Straße lebten zum Beispiel Obdachlose, die er vorurteilsbeladen falsch einschätzte, die aber Bücher mit sich schleppten.
In Gegenwart des mexikanischen Revolutionsdenkmals redet Tabaré über die Menschen in Mexiko. Er ist begeistert. „He visto un México de tantos ángeles que no salen en la tele“, sagt er. „Ich habe ein Mexiko so vieler Engel erlebt, die nicht im Fernsehen auftauchen“. Männer und Frauen, anonym, die helfen würden ohne was im Gegenzug zu erwarten, „nur mit der Tatsache, dass es dir gut gehe und du deine Reise fortsetzen mögest“.
Mexiko ist einzigartig
Ich will wissen, ob es ein bisheriges Highlight gegeben habe. Tabaré zögert und entschließt sich zu einer „poetischen“ Antwort: Amerika sei für ihn perfekt, sehe man von den Narben ab. Und er meint damit sicherlich nicht sein Fahrrad. Und so was wie Mexiko, das gebe es nicht ein zweites Mal. „México es único“, Mexiko sei einzigartig. Wäre es andersherum, hätte er von hier aus Südamerika bereist, vieles hätte ihn wohl nicht überrascht. Mexiko hat alles. „Wie gut, dass ich aus einem so kleinen Land (wie Uruguay) komme“, sagt Tabaré. Und seine Heimat, wie sei die denn? Friedlich, sagt der Uruguayer. Und langsam. „Selbst die Vögel bewegen sich langsam“.
Tabaré holt ein Notizbuch hervor, in dem mexikanische Orte und Bundesstaaten aufgeführt sind, die er noch besuchen will. Den Süden kennt er schon. Mit dem Fahrrad – und sogar zu Fuß unterwegs über mehrere Monate – hat Tabaré ihn erkundet. Es seien viele wie er selbst unterwegs, sagt Tabaré. Und tatsächlich findet man in Sozialen Medien weitere Geschichten von Familien oder Einzelreisenden auf ihrem Weg durch Mexiko.
Extra: Mit dem Rad durch Mexiko-Stadt
Wie schätzt jemand, der Bogotá, Lima, Cáracas und andere lateinamerikanische Großstädte kennengelernt hat, die Situation für Fahrradfahrer in Mexiko-Stadt ein? „Superordenada“, sagt Tabaré, super geregelt. Anderswo sei es ein Chaos, selbst in kleineren Städten gebe es mitunter kein Durchkommen im Verkehr.
Unser Gespräch neigt sich dem Ende zu. Ob er, der tausende Kilometer gereist sei, nicht einen Tipp für Newbies habe, die um die Welt reisen wollten. So für Leute wie mich zum Beispiel. 200 Meter habe ich ja bereits auf seinem Rad geschafft.
Tabaré schaut mich ernst an. „Ja“, sagt er, „keinen“. Er habe sich verrückt gemacht im Vorfeld der Reise. „Me leí una cagada de libros“, einen Haufen Bücher habe er gelesen. Dass man einen Apfel nach gewissen Zeitabständen essen solle. Dass man eine Kanne für Kaffee und eine für Tee bräuchte. Sein Fazit: Einfach losfahren.
Ich hatte ihn auf die Einreisebeschränkungen der USA hingewiesen, 20 Mal weiter entfernt als Querétaro. Aber Tabaré macht das keine Sorgen. „Es sind sechs Monate“, die seine Tour im Norden dauern werde, bis er Hollywood und die Heimat des Rock n Roll erreicht.
Eine Runde in der Alameda
Wir schießen Fotos im benachbarten Parque de la Alameda. Nahe bei uns stehen drei Reiter der Touristenpolizei vor ihren Pferden, mit Maske und im prächtigem Charros-Anzug. Sie beobachten uns neugierig: Früher zogen die Menschen zu Fuß und per Pferd durch die endlosen Weiten Amerikas, heute ist es das Fahrrad.
Tabaré schwingt sich auf seine „América“, fährt los, dreht nach einigen Metern und rollt dann an meiner Kamera vorbei. „Hasta Alaska con esta América“, ruft er und rollt zum Parkende im Westen. Da fährt ein Junge aus Uruguay, entschlossen, einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, den er bereits zu hundert Prozent lebt. In die Richtung geht es auch raus aus der Stadt. Richtung Alaska.
Miguel Castro/voyyestoy.com
Update: Einfach losfahren – genau das hat auch Tabaré mittlerweile umgesetzt: Am 11. Mai, ein paar Wochen nach unserem Gespräch (die spanische Textversion war früher erschienen), ist er nach wochenlanger Vorbereitung mit Freunden Richtung Norden aufgebrochen. Der etwa einjährige Besuch in Mexiko-Stadt ist zu Ende. Erstes Ziel ist die Kolonialstadt von Querétaro, 200 Kilometer entfernt.
Mehr Infos über Tabaré Alonso: Instagram, Facebook und Buch
Facebook: Seite von Tabaré
Instagram (tabarealonso)
Website (www.tabarealonso.com)
Youtube: Kanal von Tabaré Alonso
Sein Buch, Anfang 2021 veröffentlicht, ist in der Bierbrauerei „Quiero Chela“ (Nähe Plaza de la República), direkt bei ihm oder online als PDF erhältlich. Preis: 200 mexikanische Pesos (umgerechnet etwa 8 Euro).