Seit Mitte März erlebe ich eine Metropole im Corona-Stillstand. Das heißt, sie sollte. Tatsächlich ist die Ciudad de México alles andere als im Dornröschenschlaf versunken. Und jetzt wird sie wieder richtig wach, trotz weiterhin hoher Infektionszahlen.

Ende März muss ich wegen eines Ausweises zur Ausländerbehörde im schicken Wohnviertel Polanco fahren. Die Maske in den Räumen dort ist Pflicht, aber draußen wirkt die Welt noch halbwegs in Ordnung. Ok, Schulen und Museen sind bereits geschlossen, und die Regierung mahnt an, zu Hause zu bleiben. Aber Läden wie beispielsweise die Filiale eines großen Sportartikel-Händlers neben der Ausländerbehörde sind weiterhin geöffnet. Also besorge ich mir dort ein Volleyballnetz (denn rausgehen wollen wir auch nicht mehr groß) und gehe an der leergefegten Abteilung für Fitnessgeräte vorbei.

Ich bin fast der einzige Kunde im Laden, im Gegensatz wenig später im Supermarkt. Die Senioren, die sonst gegen ein Trinkgeld die Einkäufe an der Kasse in den Wagen packen, sind verschwunden, die Geschäfte folgen damit einer Empfehlung der Regierung, zu deren Sicherheit. Aber Abstandsregeln sind hier unbekannt. Ich schiebe mich nervös vor den Einkaufswagen, um von den drängenden Leuten hinter mir an der Kasse nicht erdrückt zu werden. Aber das ist eh egal, denn in den Supermarktgängen herrscht ein munteres Gedränge.

Vier Wochen später, Ende April, hole ich den Ausweis im Anwaltsbüro ab, auch in Polanco. Jetzt ist die Welt in der Innenstadt eingefroren. Wenig Menschen auf der Straße, wenig Verkehr, fast alles dicht. Der Prachtboulevard „Reforma“ wirkt wie ausgestorben, der Hauptplatz der Stadt, der Zócalo, wurde eingezäunt. Um Menschenansammlungen zu vermeiden. Auch im Supermarkt wird jetzt auf Abstand Wert gelegt, ohne Maske kommt man nicht mehr rein. Ein Mitarbeiter hält mir kurz ein Fiebermessgerät an die Stirn. Ob die aber auch wirklich funktioniert, frage ich mich. Kurzer Blick auf das Display, dann winkt er mich durch.

In den dicht bevölkerten Randgebieten läuft das Leben allerdings praktisch unverändert weiter, von Corona-Angst keine Spur. Versehentlich gerate ich auf der Rückfahrt ins Lagunilla-Viertel am Stadtzentrum. Hier gibt es einen bekannten Marktbereich, der Flohmarkt von Lagunilla zu Vor-Corona-Zeiten berühmt.

Von Leere ist hier aber auch jetzt keine Spur, die Hauptstraße ist links und rechts gedrängt voll. Menschen kreuzen ständig meinen Weg. Ich seh in meiner Phantasie den „Bicho“, das Tier, wie hier oft das Corona-Virus bezeichnet wird, fortlaufend um mich herumtappen.

In meinem „Barrio“, einem Stadtviertel im Bezirk Xochimilco im Süden der Stadt, bringen die Behörden an belebten Plätzen gelbe Warnplakate auf. Warnung, dies sei eine Risikozone wegen möglicher Menschenansammlungen, schützen Sie sich. Die kleinen Lebensmittelhändler haben weiterhin geöffnet, sie sind allerdings auch Teil „wichtiger“ Branchen. Der Orangensaft-Verkäufer auf der Plaza allerdings nicht, trotzdem stellt er den Verkauf in seiner Bude an der Straße nicht ein (Der frischgepresste Saft war aber lecker …).

Ebenso die Zeitschriftenhändlerin. Die Eisverkäuferin. Die Blumenverkäuferin. Der Fahrradmechaniker. Der Fotograf. Die Second-Hand-Klamottenverkäuferin. Der Tamales-Anbieter, der frühmorgens am Gefängnis seine Maispasteten anbietet. Die Schrottsammler, die sich mit der sonoren Stimme vom Band ankündigen. Und all die vielen Menschen, die informell auf der Straße oder in ihren kleinen Läden, nicht selten ohne Anspruch auf Sozialleistungen, Tag um Tag ihr Geld verdienen (müssen). „Una cuarantena para privilegiados„, eine Quarantäne für Privilegierte sei der Fall in Mexiko, schrieb schon Ende März eine spanische Tageszeitung.

Abstand ist also immer noch ein Fremdwort. Und Masken? Stören beim Reden mit den Cuates, den Kumpeln, heruntergezogen hingen sie am Kopf. Nur wenige nehmen das Virus Ernst, so wie die Süßwarenhändlerin Rebecca in meinem Viertel. Sie hat die Theke ihres Verkaufsladen mit Plastikfolie abgedeckt, Warnschilder kleben links und rechts, Gel steht bereit. Wer die zwei Stufen zur Theke hochgehen will, soll Abstand halten. „Der Nachbar ist erkrankt, und der, und der“, sagt sie und zeigt in verschiedene Richtungen. Und dass man sich schützen müsse.

Anfang Juni dann bin ich wieder im Zentrum, diesmal mit dem Rad (das Video findet ihr hier). Und die CDMX, die Ciudad de México, hat offenbar nun genug von der verordneten Eiszeit. Die Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum hat bestimmten Wirtschaftsbranchen die Wiederaufnahme ihrer Aktivitäten erlaubt, dazu gehören Brauereien und Autowerkstätten. Auch der Hausbau darf wieder loslegen. Die Straßen füllen sich wieder. An einer Kreuzung werkeln Autoscheibenputzer und Süßigkeitenverkäufer. Vor einer Markthalle in Coyoacan, dem Frida-Kahlo-Viertel, bietet eine Frau selbstgenähte Mundschutzmasken an.

Noch ist vieles geschlossen, doch Stück für Stück will die Metropole nun zurück zu einer „neuen“ Normalität. Zeitweilig geschlossene Metrostationen öffnen wieder, ein zeitweiliges Verbot für Autofahrten läuft aus, neue Fahrradwege sollen die Menschen animieren, alternative Pendlermöglichkeiten zu nutzen.

Ein Ampelsystem basierend auf der Zahl der Krankenhausbelegungen ist die Norm für den Wechsel. Gehen die Zahlen bis auf einen gewissen Prozentsatz herunter, wechselt die Ampel auf Orange, dann auf Geld und schließlich Grün. Bis Ende Juni sollen daher Hotels, Restaurants und Einkaufszentren wieder öffnen, wenn auch mit beschränkten Kapazitäten – sofern die oben genannte Zahl sinkt. Schon am 23. Juni wird der Zócalo – Stand jetzt – von seiner Umzäunung befreit. (Update 30. Juni: Tatsächlich wurde er erst eine Woche später wieder eröffnet)

Abstand halten wird da noch schwieriger. In den vielen einfachen Vierteln der Stadt drängt es die Menschen raus. Beziehungsweise jetzt erst recht, denn einen völligen Stillstand hat es ja die ganze Zeit nicht gegeben.

Neulich nahm ich beim Laufen eine Route durch ein Nachbarviertel. Ein Fehler. Statt verwaister Straßen traf ich auf fröhlich kickende Jugendliche, viele Passanten waren ohne Mundschutz unterwegs, Kinder rannten lachend an mir vorbei. In einem Friseurladen – sollte der nicht eigentlich zu sein? – hockten mehrere Menschen und warteten darauf, Platz nehmen zu können. Ohne Cubrebocas, den Mundschutzmasken. Und alles ohne Abstand, den keiner wich aus – im Gegensatz zu mir. Lektion: Doch lieber frühmorgens laufen, wenn keiner unterwegs ist. Und nicht mehr durch dieses Viertel. Oder in die Parks, die seit Anfang Juni wieder teilweise geöffnet haben, und in denen sportliche Aktivitäten erlaubt sind. Wer allerdings die Laufstrecke ohne Cubreboca nutzt, wird von den anwesenden Polizisten zur Ordnung gerufen.

Wie es weitergeht? Auf jeden Fall nicht zurück in die selbstauferlegte Quarantäne. „Lieber sterbe ich am Bicho als an Hunger“, ist ein geläufiger Spruch. Im August wollen die Schulen den Präsenzunterricht wiederaufnehmen, nach den auf Anfang Juni nach vorn verlängerten Sommerferien. Der Tourismus, einer von Mexikos wichtigen Einnahmequellen, nimmt langsam wieder Fahrt auf: Im 2000 Kilometer entfernten Yucatan an der Karibik haben wiedereröffnete Hotels ihre ausländischen Gäste Touristen mit Mariachi-Musik empfangen. Und Cubreboca.

Währenddessen liegen die Infektionszahlen in Mexiko weiterhin hoch. Mehrmals hieß es, dass die Pandemie „gezähmt“, dass die Belegung der Covid-19-Krankenhäuser „stabil“ sei. Das Ampelsystem soll individuell für jeden Bundesstaat klären, wann eine Rückkehr zur Normalität möglich ist. Daher die stückweise Wiedereröffnung der Läden in Mexiko-Stadt, sobald der „Semaforo“, die Ampel, auf Orange wechseln könne. Doch die tägliche Statistik zeigt, dass die Zahl an Neuinfektionen bislang nicht geringer wird. Und wie hoch die Dunkelziffer ist, darüber lässt sich nur spekulieren.

Aber wenn man durch die Straßen geht, dann spürt man davon … nichts. Vor ein paar Tagen beim lokalen Gemüse- und Obsthändler, in der Nähe von Rebeccas Laden: Der Verkäufer hinter der Theke trägt zwar eine Maske. Aber während ich darauf warte, dass er meine Ware abwiegt und in den Rucksack packt, drängt sich links von mir immer wieder ein Mann ohne Maske dicht an mir vorbei zum Verkäufer. Was die Pepinos kosten würden. Und die Chiles. Und rechts steht ein ältere Frau, offensichtlich eine Hausangestellte, und verlangt – ebenfalls ohne Cubreboca oder Careta (der hier verbreiteten Plastikhaube vor dem Gesicht), dass das Obst in ihrer Hand nicht eingewickelt werden solle. Sie lacht. Der Mann links rückt wieder näher heran. Ich weiche zurück.

Irgendwann wird diese Pandemie mit ihren Einschränkungen vorbei sein. Aber Mexiko-Stadt zumindest lebt weiter sein teils chaotisch-anarchisches, teils streng reglementiertes Leben.
Miguel Castro

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