Die fast schon surreal anmutende Gelassenheit Mexikos zur Corona-Pandemie ist Geschichte: Am heutigen Montagabend, den 30. März 2020, hat das Land den „gesundheitlichen Notstand“ erklärt und zum 30tägigen Shutdown aufgerufen. Aber wird der auch befolgt werden?

„Quédate en casa“. Drei Worte, die der stellvertretende Gesundheitsminister Hugo López-Gatell derzeit immer wieder ausspricht. Bleib zu Hause. Der offizielle Corona-Sprecher der mexikanischen Regierung hatte diese Mahnung schon die vergangenen Tage wiederholt vorgetragen, sie findet sich in Mexiko-Stadt auch an Wänden. Aber am Montag, während der abendlichen Pressekonferenz zur Coronavirus-Ausbreitung – Stand Montag 30. März: 28 Tote und 1043 bestätigte Fälle – trug López-Gatell sie so deutlich wie nie zuvor: Bleibt zu Hause. Und zwar am besten alle. Denn die Corona-Pandemie hat nun auch Mexiko im Griff. Seit einigen Tagen steigen die Infektionszahlen steil nach oben. „Dies ist die letzte Chance“, sagte López-Gatell am Montag. Es sei der Moment, um eine katastrophale Entwicklung wie in Spanien und Italien zu vermeiden. Denn noch könne man die Infektionsrate in ihrem Anstieg abflachen, um das mexikanische Gesundheitswesen vor dem Kollaps zu bewahren.

Mexiko: Pressekonferenz der Regierung am Montag, 30. März 2020

Sollten die 120 Millionen Einwohner Mexikos dem Aufruf Folge leisten, könnte nach Angaben der Behörden die Spitze der Corona-Infiziertenzahl erst Ende Mai erreicht werden – und die Krankenhäuser hätten Zeit gewonnen, um bis dahin anfallende Patienten ohne Überforderung versorgen zu können. Wenn nicht, sei schon Ende April mit dem Peak zu rechnen. Und das ginge mit dem Kollaps der medizinischen Infrastruktur einher.

Deswegen trat die Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador heute auf die Bremse, nachdem sie mehrere Wochen lang eine vergleichsweise entspannte Eindämmungsstrategie in Bezug auf die Corona-Pandemie gefahren war. Nun gilt ab sofort der „gesundheitliche Notstand“, die „emergencia sanitaria“, bis zum 30. April die weitgehende Suspendierung öffentlicher Aktivitäten sowie nicht notwendiger Tätigkeiten von Behörden und Privatwirtschaft (Ausnahmen: Gesundheit, Infrastruktur, Lebensmittel, Sicherheit), die Begrenzung der Zahl an Versammlungen auf 50 Personen und der Aufruf an die Bevölkerung, das Haus nur wenn notwendig zu verlassen. Für über 60jährige, Personen mit Vorerkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck und Schwangere verordnete der Corona-Sprecher gleich eine zwangsweise Selbstisolation.

Tatsächlich hat sich Mexiko-Stadt schon seit zwei Wochen auf Corona mehr und mehr vorbereitet: Die Schulen sind schon längstens geschlossen, Büros schickten ihre Mitarbeiter ins Home-Office. Vor einer Woche schlossen Parks, Kinos und Theater, auch Restaurants bleiben mehr und mehr zu. Noch sind Einkaufszentren offen, aber nach Auskunft von López-Gatell habe die Mobilität bis heute in der Hauptstadt um 60 Prozent abgenommen.

Auch wir sind schon die vergangenen zwei Wochen faktisch in häuslicher Isolation geblieben – die Kids im virtuellen Unterricht via Google Classroom, wir am virtuellen Arbeitsplatz. Aber in unserem Barrio sind die „Tienditas“, die Tante-Emma-Läden, weiterhin geöffnet. Auf der Straße sieht man tagtäglich die älteren Straßenreiniger werkeln, an der Straße die allgegenwärtigen Händler in ihren Buden auf Kundschaft warten. Im Angebot: Tacos, Jugos, Fruta.

Es geht auch nicht anders, allein Mexiko-Stadt beherbergt Millionen Menschen, die sich ein „Quédate en casa“ finanziell nicht leisten können. Es sind nicht nur die Straßenverkäufer, sondern die Hausangestellten, die Parkeinweiser, die kleinen Händler in ihren Tienditas, die keine Reserven haben. Deswegen wirken die Straßen zwar weniger voll an diesen Tagen, mit mehr Menschen, die die „Cubrebocas“ tragen, die Gesichtsmasken. Aber so gespenstisch leer wie in Europa dürften die Straßen nicht werden. Auch nicht in den nächsten 30 Tagen.

Wie es weitergeht? Keiner weiß es. Ab und an haben wir uns die vergangenen zwei Wochen mal „rausgetraut“, zum Kauf beim Händler vor Ort – die gerade jetzt mehr denn je Unterstützung brauchen -, oder zum Spaziergang im nahegelegnen Dinamos-Wald. Der war menschenleer, im Gegensatz zur einstigen Olympia-Ruderstrecke im alten Viertel Xochimilco, heute ein Laufparadies. Die „Sana distancia“, der von der Regierung erwünschte „gesunde Abstand“, ist in Mexiko-Stadt offenbar noch nicht verinnerlicht, wie es vorbeilaufende Jogger vormachen. In einem Supermarkt rücke ich an der Kasse zwei Schritte weg vom Hintermann, und der rückt daraufhin drei vor – getreu dem Motto im mexikanischen Straßenverkehr: wo eine Lücke, da hinein. Und neulich kam der Gas-Lieferservice in unserer Wohnanlage vorbei. Nach der Zahlung mit Kreditkarte streckte mir der Fahrer des Tankwagens die Hand entgegen. Als ich abwehrte, sagte er lachend: „Ah sí, el Corona“. Ach ja, das Corona.

Die bereits vorgezogenen Osterferien werden über den 20. April verlängert. Die Grenzen bleiben aber geöffnet. Auch ein Ausnahmezustand, eine Ausgangssperre oder andere Zwangsmaßnahmen sind nicht vorgesehen, sagte López-Gatell. Ende April wolle man wieder Politik und Wirtschaft schrittweise hochfahren. Bleibt zu hoffen, dass sein Aufruf soweit wie möglich befolgt wird. Und Mexiko-Stadt nicht ein ähnliches Schicksal erleiden muss wie Madrid oder Bergamo.

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