Manche waren tagelang unterwegs, um die Kirche im Norden von Mexiko-Stadt zu erreichen. Andere rutschen auf Knien die letzten Meter. Ihr aller Ziel: ein sagenumwobenes Gewand. Ein Besuch bei der Jungfrau von Guadalupe an ihrem Ehrentag, dem 12. Dezember.

Hinweis: Dieser Beitrag ist ursprünglich im Dezember 2018 erschienen.

Mexiko-Stadt, 2021: Vor und am 12. Dezember feiern Millionen Pilger in Mexiko-Stadt die Jungfrau von Guadalupe – es ist damit die wohl größte katholische Prozession des Landes. Dann füllt sich die mexikanische Hauptstadt mit Menschen, die zu Fuß, per Fahrrad, mit Auto oder Bus und Metro die „Villa de Guadalupe“ ansteuern – ein Viertel im Norden der Riesenstadt. Dort soll einstmals Maria, die Mutter Gottes, einem Bauern nach der spanischen Eroberung des Landes erschienen sein. Corona unterbrach nur zeitweilig den Pilgerstrom.

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Dieses Jahr 2021 sind nach Angaben der Verwaltung des Stadtbezirks, in dem die Basilika der Marienerscheinung liegt, in den Tagen vor dem 12. Dezember bereits 1,5 Millionen Menschen zur Guadalupe gepilgert, und am Ehrentag selbst dürften Medienberichten zufolge drei bis vier Millionen dazukommen.

Es ist also ein großes Fest für die Menschen, die die Madonna verehren. Was bewegt sie? Wir waren dort 2018 unterwegs und haben Antworten und Eindrücke gesammelt:

Villa de Guadalupe, Morgenstunden des 12. Dezember 2018. Jeder Meter auf dem knochenharten Boden dürfte für Höllenschmerzen in den Knien sorgen, aber das sieht man der jungen Frau nicht an.

Sie kriecht auf allen Vieren zur Basilika, die sich nur noch wenige Dutzend Meter vor ihr entfernt im Norden von Mexiko-Stadt erhebt – umringt von einem in die gleiche Richtung ziehenden Strom an Männern, Frauen und Kindern, der um die sich Quälende einen respektvollen Bogen macht. Aus dem Tempel dringen Musik und Redefetzen einer Messe nach außen. Die Türen des gewölbten Baus sind geöffnet, der Duft von Weihrauch hängt in der Luft. Eine Hand nach vorn setzend, das Knie nachziehend, den Kopf nach unten gerichtet, schleppt sich die Frau nach vorn. Ihr Ziel: die Jungfrau von Guadalupe, die Mutter Gottes. Maria.

Hier am Fuße des Tepeyac-Berges, vor 487 Jahren, soll die „Virgen“, die Jungfrau, dem Indígena Juan Diego einstmals erschienen sein – mehrmals innerhalb weniger Tage in Gestalt einer eigentlich in Spanien beheimateten und dort verehrten Darstellung Marias. Erst kurz zuvor hatten spanische Konquistadoren das Reich der Azteken unterworfen – und auf dem Trümmern ihrer Hauptstadt Mexiko-Stadt gegründet. Die Azteken-Tempel wurden abgerissen, aus ihren Steinen errichteten die christlichen Eroberer ihre Kirchen. Und statt der aztekischen Götter trat der eine an ihre Stelle, dessen Glaube Franziskaner-Mönche in der neuen Welt verbreiten.

Auch Juan Diego ist frisch getauft. Er ist auf dem Weg in die neue Stadt der Spanier, als ihm die Madonna mehrmals erscheint – zum vierten und letzten Mal am 12. Dezember 1531 in Gestalt der Jungfrau von Guadalupe. Die dunkelhäutige „Virgen“ ist eigentlich spanisch, Guadalupe ein Ort im Zentrum der Heimat der Eroberer.

Bei früheren Erscheinungen, so die Überlieferung, hatte Maria von Diego gefordert, ihr eine Kirche zu bauen. Jetzt hat sie einen weiteren Auftrag: Rosen vom Berg zum Bischof bringen. Juan Diego gehorcht. Als er jedoch vor dem Kirchenmann tritt und seinen Umhang ausbreitet, ist statt der aufgesammelten Blumen ein prächtig leuchtendes Abbild der Madonna von Guadalupe auf dem Stoff zu bestaunen – so erzählt es die Überlieferung.

Für Juan Diego und die „Guadalupena“ jedenfalls ist es der Beginn einer Tradition und Verehrung, die beim ersten schließlich in dessen Heiligsprechung gipfelt, 2002 durch Papst Johannes Paul II. Und auch die Madonna erlebt einen stetigen Aufstieg in ihrer Bekanntheit, bis hin zu ihrer Erhebung zur Schutzheiligin Mexikos: Unabhängigkeitskämpfer küren sie 1810 zum Symbol ihres Aufstands gegen die spanischen Herren eines Landes, dass heute die meisten spanischsprachigen Einwohner des Globus hat, und die sich zum größten Teil als Katholiken betrachten.

Diego ist längst verstorben, die spanischen Konquistadoren Geschichte. Das Tuch, der „Ayate“ mit dem Bild Marias, hat sich hingegen bis heute erhalten – glaubt man der Überlieferung. Und fast fünf Jahrhunderte nach der Erscheinung am Tepeyac-Berg ist genau dieses Tuch auch das Ziel der sich zur Basilika schleppenden Frau. Es hängt an der Wand der Basilika, für alle weithin sichtbar, und dekoriert mit der grün-weiß-roten Fahne Mexikos. Wer hierhin pilgert, will die Guadalupena um Hilfe bitten. Ihr danken. Oder vor ihr Buße leisten. Die meisten Pilger kommen zu Fuß, manche schleppen Kreuze und Gemälde des Abbilds mit sich. Und einige wenige rutschen auf Knien über den langen Weg zur Basilika und zur Madonna. So wie die Frau, die nur noch wenige Meter von ihrem Ziel entfernt ist, als sich der Betrachter wieder von ihr abwendet.

„Die Jungfrau, sie ist die Mutter.“

Pilgerin an der Basilika de Guadalupe

Stunden zuvor, am noch kalten Morgen dieses 12. Dezember 2018, ist auch Alan auf seinen Knien Richtung Basilika unterwegs. Er ist noch etliche hunderte Meter vom Platz vor der Kirche entfernt, als er einen Moment Pause macht.

Alan (*Name geändert) trägt einen Bilderrahmen, María hält seinen Rücken frei. Seine Schwester steht neben ihm, einen wärmenden Kakao in der Hand. Warum er sich die Strapazen antue? „Ich mache es für meine Töchter“, erzählt der stämmige Mann. Und das er für seine Vergangenheit Buße leiste. Alan spricht von „Agresiones“, Gewalt. Tattoos zieren seinen Körper. Seine Schwester hält ihm den Kakao hin, dann setzt sich Alan wieder in Bewegung, Richtung Basilika.

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Rechts und links von ihm sind weitere Pilger unterwegs. “Etwa vier Kilo ist er schwer“, schätzt Claudia. Auch sie hat sich einen Bilderrahmen umgeschnallt. Sie, die in der Hauptstadt wohnt, ist um 6 Uhr früh gestartet, „por creencia y devoción“, wegen religiöser Überzeugung und Hingabe.

Später, im Laufe des Tages, wird ein Priester an einer Außenmauer der Basilika all diese Abbilder der Jungfrau mit Weihwasser segnen. Und die Pilger werden ihm ihre Gemälde entgegenstrecken, sobald er zur Kelle greift. Dann spritzen die gesegneten Tropfen auf die vielen Rahmen, Abbilder und Menschen, die sie hochhalten. Die Gläubigen haben ihre eigene „liebe Frau von Guadalupe“ an der heimischen Zimmerwand hängen, tatsächlich ist ihr Motiv allgegenwärtig – in Geschäften, im Wohnzimmer, in Taxis oder auf der Straße in einem kleinen Schrein am Wegesrand.

Segnung der Abbilder. Fotos: Miguel Castro

Zurück zum frühen Morgen dieses 12. Dezember: „Es la fe“, sagt ein Mann, „es ist der Glaube“. Müde sitzt er auf einer Bank am Rande des Boulevards, an dessen Ende sich die neue Basilika findet. Sie wurde in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, um die baufällige alte Kathedrale der Virgen abzulösen. In seiner rechten Hand hält er ein kleines Kind, eingewickelt in eine Decke, wie es in Mexiko statt eines Kinderwagens oft zu sehen ist.

Sie seien schon in der Nacht in der Kirche gewesen, hätten die Virgen gefeiert, erzählt der Vater, jetzt gehe es zurück nach Hause. Denn es ist Tradition, der Jungfrau am Vorabend des 12. Dezember die Mañanitas, das mexikanische Geburtstagslied, zu singen. Im Fernsehen tragen dann Mariachi-Sänger schnulzige Liebeserklärungen an die Madonna vor, in der Basilika finden Tänze und Messen statt. Er selber sei gar nicht religiös, sagt der Mann, aber seiner Frau sei dieser Gang zur Virgen wichtig. Der Glaube. Sie schläft rechts von ihrem Ehemann auf der Bank, erschöpft von der Nacht.

Kurz vor der Basilika steht ein Händler am rechten Straßenrand. Er schleppt keine Madonnenfigur mit sich herum, er verkauft sie. „Zehn Pesos“, sagt er, die Figur ist wenige Zentimeter gro. Umgerechnet kostet sie etwa 50 Cent. Anderswo erschallt laute Musik, eine mannsgroße Statue der Guadalupe lädt zum Shoppen im Devotionalienshop ein. Daneben schöpft ein Paar aus einem großen Topf im Kofferraum seines Autos „Café de olla“, Filterkaffee, für die noch müden Pilger, die aber voranschreiten. Denn der Zug zur Basilika – er ist geprägt von einer Zielstrebigkeit seiner Teilnehmer, an dessen Ende zur Belohnung ein Selfie vor der Entrada, dem Eingang zum großen Basilika-Platz ansteht. Die Wanderung, sie ist auch ein Gruppenerlebnis. „Für manche dürfte der Weg das Ziel sein“, sagt später ein Freund bei der Betrachtung der Pilger – die Anstrengung, das bunte Umfeld, die Mitwanderer, das Gefühl des Ankommens, das alles dürfte dazu beitragen.

Nicht alle steuern den Innenraum der Kirche als erstes an. Denn links herum gelangt man zu einem Seitenportal, etwas tiefer gelegen als die anderen Eingänge. Hier können Gläubige direkt zur Madonna gelangen – aber nicht gehend. Kurz vor dem Bilderrahmen hoch an der Wand stehen Rollbänder bereit, sechs Stück nebeneinander. Kirchenmitarbeiter drängen leise, aber energisch, nicht stehenzubleiben. Unaufhörlich drängen Pilger an diesem 12. Dezember auf den Durchgang zu.

Vom Band ganz rechts, direkt unterhalb des Altars, haben Pilger die beste Sicht auf die Virgen, die mehrere Meter über dem Strom an Pilgern mit einem scheinbar melancholischen Blick auf die Menschen hinabschaut. Es ist ein Erlebnis von nur wenigen Sekunden, dann ist das Ende des Laufbandes erreicht und die Madonna hinter einem. Nich stehen bleiben, raus auf den Platz, noch hoch zum Berg, wo sich einstmals Maria Juan in den Weg stellte. Die alte Basilika ist hier weiterhin geöffnet, drinnen herrscht Stille. „¡Silencio!“, zischt eine Mutter ihre Tochter an, „schweig!“

Der Strom an Gläubigen nimmt zu, der Platz ist gefüllt mit Menschen. Fast alle sind dunkelhäutig, haben schwarze Haare. Auch die Juan Diego erschienene Gestalt der Jungfrau hat ein gebräuntes Gesicht, im Fernsehen und Zeitung ist von der „Morenita“ die Rede – der kleinen Brünetten.

Als Juan Diego 1531 auf die Virgen trifft oder getroffen sein soll, liegt der Fall des Aztekenreiches erst zehn Jahre zurück. Die Missionsarbeit der spanischen Eroberer hat gerade erst begonnen. Aus ihren Klöstern heraus betreiben Mönche des Franziskanerordens Überzeugungsarbeit, manchmal knüpfen sie dabei an die alten Gottheiten an von Azteken, Chichimeken, Tarasken, Tolteken, Mayas und anderen vorhispanischen Völkern Mexikos, um den Glauben an den Gott aus Übersee zu verankern. Statt auf einer Pyramide zelebriert ein Priester eine Messe in einer neuen Kirche am gleichen Ort.

Auch der Tepeyac-Berg war schon vor der Eroberung durch die Europäer ein heiliger Ort, hier stand ein Tempel zu Ehren der aztekischen Fruchtbarkeitsgöttin Tonantzin – die Maria-Erscheinung am gleichen Ort dürfte die Christianisierung Mexikos erleichtert haben.

Der Vormittag zieht vorüber, auf dem Platz ist eine Party angesagt, die an das vorchristliche Mexiko erinnert: Überall sind Tanzgruppen zu finden, sie tragen Schürzen, Federn schmücken den Kopf.

Von irgendwoher kommt eine Gitarre ins Spiel, dann springen Männer und Frauen in ihren an aztekische Krieger erinnernden Kostümen nach links und rechts, es klackert rundherum – die Tänzer tragen Holzschalen an den Beinen. „Somos concheros“, sagt Itzel. Die junge Mexikanerin harrt mit ihrer Mutter Edith seit der Nacht auf dem Platz, sie haben hier in einem Zelt übernachtet.

Concheras an der Basilika von Guadalupe in Mexiko-Stadt

Während drinnen in der Basilika eine weitere Messe abgehalten wird, haben Edith, Itzel und ihre Mitstreiterinnen der Tanzgruppe „Conchera de conquista“ Kerzen und ein Bild der Jungfrau auf dem Boden drapiert. „Una velación“, eine Art Gedächtniswache, sei das, erzählen die Frauen.

Sie sind aus Tepotzlán oder Hidalgo gekommen, nahegelegenen Orte und Regionen, um der Virgen zu ehren. „Wir haben einen großen Glauben“, sagen sie, und Geld für ihren Auftritt wollen sie nicht. Petra, eine ältere Mitstreiterin, betont: „Die Jungfrau, sie ist die Mutter.“

Während die Tänzer fortfahren, werfen wir einen letzten Blick auf die Guadalupe.  Der Platz hat sich mittlerweile noch mehr mit Pilgern gefüllt. Acht Millionen sind es angeblich, die Jahr um Jahr um den 12. Dezember herum zur mexikanischen Maria wallfahren. Zur „Mama“, die über allen wacht, Trost spendet und vergibt – nicht nur an diesem Dezembertag in einer smogverseuchten Metropole und Hauptstadt eines Landes, welches mit Morden, Entführungen und Drogenschmuggel Schlagzeilen macht, während die allermeisten seiner 120 Millionen Einwohner doch wahrscheinlich einfach nur ihr Leben – und ihren Glauben – in Frieden verbringen wollen. mc/voyyestoy.com

Autor: Miguel Castro
Aktualisiert (Layout, Korrekturen) 7.11.2019

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