Mexiko-Stadt feiert den Jahrestag der Mexikanischen Revolution, die am 20. November 1910 begann. Der Protagonist damals: Francisco I. Madero. 110 Jahre später erinnern hier Straßennamen an den tragischen Helden. Eine kleine „Geschichtsstunde“.
Menschen eilen oder flanieren durch die Calle Madero in der Altstadt von Mexiko-Stadt. Links und rechts bieten Geschäfte ihre Waren an, von irgendwo dröhnt laute Musik aus einem Laden.
An einer Ecke stehen zwei goldfarbige Pistoleros (Revolvermänner) und laden eine Frau zum Fotoshooting mit ihnen ein. Sie sind mit Patronengurten und einem großen Sombrero geschmückt – eine klischeebehaftete Erinnerung an die Soldaten der Mexikanischen Revolution, die 1910 begann und erst Jahre später nach diversen Wendungen und vielen Opfern endete.
Das ist zwar eine Szene vom vergangenen Jahr, aus der Zeit vor der Pandemie. Doch selbst diese hat das quirlige Treiben in der Calle Madero nicht wirklich gemindert, nur dass die Menschen jetzt Maske tragen und Polizisten an den Eingängen zur Straße Kontrollen errichtet haben. Straßenkünstler sind ebenfalls weiterhin präsent.
Die Calle Madero im historischen Zentrum ist die Flaniermeile und Einkaufsstraße der Altstadt. Sie zieht sich vom Zócalo, dem zentralen Platz, von Ost nach West bis zur Torre Latinoamericana und den Palacio de Bellas Artes. Und sie erinnert mit ihrem Namen an Francisco I(gnacio) Madero, Held der Mexikanischen Revolution.
Madero: Verraten und ermordet
Madero war ein Idealist, der im brutalen Mächtespiel seiner Gegner und Weggefährten scheiterte: 1910 löste er den Aufstand aus, 1911 wurde er Präsident Mexikos, 1913 starb er, verraten und erschossen durch Militärs.
Heute sind seine Gebeine im Monumento a la Revolución aufgebahrt, einem pompösen Kuppelbau im Zentrum. Die Calle Madero im Zentrum ist nicht die einzige Straße in der Ciudad de México, die nach ihm benannt ist (über 500 laut eines Online-Straßenverzeichnisses). Mehrere Orte im Land tragen seinen Namen. Ein Stadtteil von Mexiko-Stadt ist zudem nach seinem Bruder und Berater Gustavo benannt. Madero ist hier und im ganzen Land präsent.
Porfirio Díaz: Diktator auf Lebenszeit
In der Metrostation „Hidalgo“ westlich des Zócalos hat Künstler Ramón Valdiosera ein großes Wandgemälde zur Revolution erstellt. Es zeigt den damaligen greisen Diktator Porfirio Díaz (den Madero stürzen wollte), Aufständische und Revolutionsgeneräle. Mittendrin: Madero und sein damaliger Stellvertreter, José María Pino Suárez.
Madero, mit einem Vollbart, blickt wie auch auf den Fotos der damaligen Zeit ernst auf den Betrachter, fast wirkt sein Blick traurig und in die Ferne. Er stammte aus einer vermögenden Familie mit Großgrundbesitz im Norden des Landes und konnte im Ausland studieren.
Das Mexiko, in dem der 1873 geborene Madero aufwuchs, war durch General Porfirio Díaz im Laufe dessen jahrzehntelanger Herrschaft modernisiert worden – unter dem Preis der Ausbeutung von Bauern (Verlust ihres Besitzes), Förderung ausländischer Investitionen und Unterdrückung oppositioneller Gruppen. 1908 gerät Mexiko in eine globale Wirtschaftskrise, Minenarbeiter streiken, oppositionelle Gruppen verlangen ein Ende der Diktatur.
Aufstand und Sieg
Auch der liberal gesinnte Madero fordert in einem Buch und Beiträgen für eine Zeitung, dass Díaz nicht mehr zur regelmäßigen Schein-Wahl antreten solle. Er selbst lässt sich schließlich zum Kandidaten des Partido Antirreeleccionista (Partei der Anti-Wiederwahl) aufstellen.
Der damals fast 80-jährige Díaz ignoriert die Forderungen und lässt sich Mitte 1910 erneut wählen – Madero war zuvor auf seiner Wahltour festgenommen worden. Einige Zeit später darf der Oppositionsführer das Gefängnis in der nördlich gelegenen San Luis Potosí unter Auflagen verlassen. Díaz feiert derweil den 100. Jahrestag des Unabhängigkeitskrieges des Landes. Heimlich flieht Madero aus der Stadt und geht in die USA. Von dort proklamiert er im Oktober 1910 den „Plan de San Luis“ – ein Aufruf zum Aufstand, der am 20. November starten soll.
Und Madero findet Gehör: Im ganzen Land erheben sich in den Wochen und Monaten darauf verschiedene Gruppen gegen die Diktatur. Einige der auch im Ausland bekanntesten sind Bauernführer Emiliano Zapata (auf dessen Forderungen sich 80 Jahre später die „Zapatistas“ im entlegenen Bundesstaat Chiapas beziehen sollten) und der Bandenchef Pancho Villa. Im März 1911 erobern die Rebellen das an der Grenze zu den USA gelegene Ciudad Juárez und besiegeln damit die Niederlage des Regimes. Der alte Diktator verlässt das Land, 1915 stirbt er im Pariser Exil. Sein Grab dort wird übrigens bis heute gepflegt, wie ich mal bei einem Besuch auf dem Friedhof von Montparnasse feststellen konnte.
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„Decena trágica“: Tod und Zerstörung in Mexiko-Stadt
Madero hingegen begeht in seinem Wunsch nach Verständigung und Glaube an die Demokratie mehrere Kardinalfehler: Nicht nur lässt er noch monatelang einen Stellvertreter Díaz regieren, bevor er selbst nach neu angesetzten Wahlen die Regierung übernimmt. Er belässt auch das Militär und Beamte der Diktatur im Amt (die lokalen Gouverneure wurden aber ausgetauscht), während er seine eigenen Rebelleneinheiten auflöst.
Und der Sohn eines Großgrundbesitzers kommt zum einen den Forderungen seiner Weggefährten nach einer Rückgabe geraubter Ländereien und Berücksichtigung sozialer Forderungen nicht ausreichend beziehungsweise sofort nach – obwohl sie im „Plan de San Luis“ genannt worden waren -, will zum anderen durchaus aber das Land gegen den Widerstand der alten Elite reformieren – was zu neuen Aufständen, diesmal gegen Madero, von links und rechts führt.
Das Ganze erinnert an die Weimarer Republik im Deutschland der zwanziger Jahre. Der neue Präsident, so scheint es, vereinsamt, das Land kommt nicht zur Ruhe: Im Norden und Süden greifen ehemalige Weggefährten wie der populäre Pascual Orozco (enttäuscht über die Nichtberücksichtigung bei der Besetzung öffentlicher Ämter) und Emiliano Zapata (wütend über die ausstehende Umsetzung seiner sozialen Forderungen und Angriffe durch die Díaz-Armee) zu den Waffen. Die Oberschicht hingegen fürchtet sich vor eben jenen sozialen Umwälzungen, die durch die Revolution bedingt mehr und mehr von der Bevölkerung eingefordert werden – und die selbst Madero als moderater Bürgerlicher und strikter Verfechter des legalen Wegs nur durch Gesetzesinitiativen umsetzen will.
Den wortwörtlichen Todesstoß für seine Regierung liefern alte Getreue von Díaz: Im Februar 1913 putschen Soldaten mitten in Mexiko-Stadt. Der „Cuartelazo de la Ciudadela“ (Damals eine Kaserne, heute eine Bibliothek gegenüber des unter dem gleichem Namen bekannten Marktes für Kunsthandwerk) führt zu Straßenkämpfen in der Hauptstadt. Zahlreiche Menschen sterben in diesen als „Decena trágica“ bekanntgewordenen zehn Tagen.
In diesem Hin und Her wird Madero durch seinen eigenen Militärchef, Victoriano Huerta, verraten: Der Gefolgsmann des alten Regimes ist insgeheim Mitverschwörer der Aufständischen. Er ordnet mit Rückendeckung des US-Botschafters die Festnahme von Madero und seines Vertreters Pino Suárez an und zwingt beide zum Rücktritt – nachdem schon Maderos Bruder Gustavo durch die Putschisten brutal ermordet worden war. Gustavo hatte noch Madero zuvor vor Huerta gewarnt, doch der glücklose Präsident hielt an seinem Militärchef fest – ein Fehler.
Huerta selbst lässt sich nach dem Rücktritt durch einen 45 Minuten amtierenden Zwischenpräsidenten erst zum Innenminister und dann zum Staatschef ernennen. Während Madero noch auf ein Exil in Kuba hofft, ordnet Huerta drei Tage später, am 22. Februar 1913, seine Ermordung an – angeblich durch Rebellen erschossen während einer Verlegung des Gefangenen.
Maderos Vermächtnis
Was danach folgt, sind weitere Jahre von Kämpfen und wechselnden Machthabern. Sein Tod bedeutet nicht das Ende der Revolution, heizt sie vielmehr an, erlebt wechselnde Machthaber im Nationalpalast von Mexiko-Stadt (unter anderem besetzen Pancho Villa und Emiliano Zapata kurzzeitig die Hauptstadt), bis die eigentliche Revolutionsphase um 1920 abflaut. Aber noch bis 1928 (oder 1938) halten Aufstände und politische Wechsel an.
Huerta selbst hält sich nur ein Jahr (auch er stirbt im Exil), Maderos Ideen überdauern seinen Tod: Die Verfassung von 1917 verbietet die Wiederwahl des Präsidenten, mit der später folgenden Bodenreform wird der große Großgrundbesitz verteilt. Und 1938 folgt schließlich die Verstaatlichung der Erdölindustrie, bis dahin in Händen von US-amerikanischen und britischen Firmen.
Wenn ihr also durch die Calle Madero oder eine gleich lautende Straße in Mexiko-Stadt geht oder fährt: Denkt an den Revoluzzer und Demokraten, der sein Land zum Guten verändern wollte – und dafür mit seinem Leben bezahlte.
Miguel Castro/voyyestoy.com
(Artikel aktualisiert 23. November 2020)
Literaturtipps zur Mexikanischen Revolution
1. Hans W.Tobler, Die mexikanische Revolution.
Zwar schon ältere (1984), aber fundierte Lektüre zur Revolution.
2. Felipe Ávila, Pedro Salmerón: Historia breve de la revolución mexicana.
Aktuelle Zusammenfassung der Ereignisse (2015), herausgegeben durch das Nationale Institut für historische Studien von Revolutionen in Mexiko (INEHRM)
3. Ángeles Mastretta, Arráncame la vida (Deutsch: Mexikanscher Tango)
Empfehlenswerter Roman (1988) über ein junge Frau im revolutionären und nachrevolutionären Mexiko, die mit einem Ex-Revolutonsgeneral verheiratet ist und ihren eigenen Weg sucht.
4. Carlos Fuente, La muerte de Artemio Cruz (Deutsch: Nichts als das Leben)
Roman (1962) über einen Unternehmer im Sterbebett, der in Rückblicken sein Leben als Protagonist der Revolution Revue passieren lässt.
Parade zum Jahrestag der Mexikanischen Revolution
Keine Großfeier 2020 zum Jahrestag der Mexikanischen Revolution: Anders als 2019 (Foto) fand in diesem Jahr keine öffentliche Parade auf dem Zócalo statt – die Corona-Pandemie verhindert es. Vor einem Jahr präsentierten dort verschiedene Gruppen Szenen aus der Revolution (meine Eindrücke lest ihr hier). Diesmal wurde nur eine kleinere Zeremonie vor dem Monument zur Revoluton abgehalten.