82 bestätigte Fälle von Covid-19-Erkrankten gibt es Stand jetzt (Montag, 16. März) in ganz Mexiko. Auf die Hauptstadt entfallen davon einem Medienbericht zufolge 21 Fälle. Auf das Leben hier hat das aber noch kaum Auswirkungen. Noch jedenfalls.
Update 18. März 2020: Mittlerweile bereitet sich auch die mexikanische Gesellschaft mehr und mehr auf den erwarteten „Ausbruch“ der Epidemie zum Wochenende vor. Täglich werden weitere Fälle gemeldet, am Mittwochabend waren es nach Angaben des Gesundheitsministeriums 118 bestätigte Erkrankungen sowie drei genesese Patienten. In der Stadt sind weniger Menschen unterwegs. Und während der Schulunterricht (vorgezogen) offiziell erst am Freitag enden soll, sind tatsächlich schon verschiedene Schulen geschlossen, wird der Unterricht per Mail und Webseiten geführt.
Das Flugzeug fliegt über dem Gelände der Formel-1-Rennbahn in Mexiko-Stadt hinweg, Richtung Osten. Gleich wird es auf dem internationalen Flughafen von Mexiko-Stadt aufsetzen. Schon kurz darauf folgt das nächste Flugzeug, dann noch ein weiteres, denn die Formel-1-Anlage liegt in der Einflugschneise des Flughafens.
Aber dafür dürften die zahlreichen Fans des Musikfestivals Vive Latino am Boden kein Auge haben, wenn vor ihnen auf den Bühnen gerade Babasónicos, DLD, 13 Minutos oder Ed Maverick spielen. Und auch nicht die vielen Passanten in den zahlreichen Einkaufszentren, in den Kinos und Restaurants – oder die Verkäufer auf den Straßen, die Insassen der chronisch überfüllten Busse, die Besucher und deren Guides in den Museen – und ebensowenig die Touristen in den Strandburgen Mexikos am Pazifik oder Atlantik an diesem „Puente“, dem verlängerten Wochenende. Corona? Gerne eines in der Hand zum Abkühlen. 30 Grad sind es am Mittag, die Sonne scheint sehr nah. Das Virus ist weit weg. So scheint es zumindest.
Denn während China, Südkorea, Deutschland, Spanien, Italien und andere Länder – Stand heute – zu immer mehr drastischeren Mitteln im Kampf gegen die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus greifen (oder sie bereits umgesetzt hatten), scheint Mexiko mitten im Virus-Hurrikan in Ruhe zu verweilen. So wie die entrückte Parallelwelt der Elfen in Tolkiens Herr-der-Ringe-Opus, während Mittelerde unter Saurons Bedrohung mehr und mehr herunterfuhr. Noch bis vor wenigen Tagen war die Epidemie in den Medien ein weniger bedeutendes Ereignis, es dominierten Frauenproteste, die tagtäglichen Morde und die Narcos, der tödliche Metro-Unfall, die Trennungen von Promis. Corona-Infizierte in Mexiko? Ja, aber alles einzelne „importierte“ Fälle unter Kontrolle, sagt die Regierung. Pandemie? Sicherlich, aber das Gesundheitssystem sei vorbereitet. Das Vive Latino oder andere Großveranstaltungen absagen? Warum? Siehe oben. Empfehlungen? Durchaus, etwa Hände waschen, sich nicht umarmen oder zur Begrüßung ein Küsschen geben.
Letzeres ist eine hier sehr verbreitete Sitte, an der selbst der Präsident des Landes derzeit festhält: Die Tage war er auf Tour durch das Land, er umarmt, herzt und verteilt Küsschen. Eine „moralische“ Kraft sei das Staatsoberhaupt, erklärte sein Corona-Beauftragter, einer der Vizeminister für Gesundheit, am heutigen Montag auf der täglichen Pressekonferenz im Nationalpalast in Mexiko-Stadt. Und kein Infektionsherd.
Noch also ist die CDMX, die „Ciudad de México“, vom Alltag geprägt. Aber mit der Ruhe dürfte es nun vorbei sein: Die Stadtregierung hat nun verkündet, dass öffentliche Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern untersagt sind. Schon seit Samstag ist bekannt, dass alle Schulen im Land ab Ende der Woche die Osterferien vorziehen, auch die Uni schließt ihre Pforten. Desinfektionsgel und Mundschutz sind Mangelware. Mexiko bereitet sich auf den Hurrikan vor. Aber noch steht ein Einkauf bevor.
Im Supermarkt im Stadtteil Coapa steht an diesem Montag für die Käufer Desinfektionsgel mit der Aufforderung bereit, es bitteschön auch zu nutzen. Mehrere Gänge weiter schweift der Blick über teils leergeräumte Bohnenregale, wobei die Regale der anderen Gänge prall befüllt sind. „Frijoles“, Bohnen, sind neben Maistortillas im mexikanischen Essen fast unverzichtbar. Draußen, auf dem überfüllten Parkplatz, scheint jeder Einkaufswagen auf dem Weg zum Auto mit den großen Toilettenpapier-Paketen des benachbarten Großhandelsgeschäfts belegt zu sein, doch dessen hauseigener Hotdog-Stand macht offenbar gute Umsätze, die Tische: voll belegt. Panik? Oder doch Alltag?
Unser Friseur scheint es gelassen zu nehmen, zumindest wirkt er so. Den Ausführungen der Regierung schenkt er aber keinen Glauben, und Corona dürfte für ihn noch weit weg sein: Selbst am heutigen Feiertag ist sein Laden gegenüber dem Frauengefängnis oberhalb von Coapa geöffnet, Geldverdienen muss er irgendwie, in einem Land, dessen Bevölkerung zu 40 Prozent im informellen Sektor ackert. „A ver“, „Mal schauen“, fällt häufig im Gespräch, während meine Haare zum Boden fallen. Mal schauen, ob Mexiko und seine Hauptstadt ein abgelegener Hort der Ruhe bleiben – oder sich ab nächster Woche mitten im Hurrikan behaupten müssen.