Drei Kränze sind an die Absperrwand angelehnt, hinter der die Ruine des Colegio Enrique Rébsamen aufragt – eine schmerzende Erinnerung an das Erdbeben von 2017.
Ich bin im Stadtteil Coapa unterwegs, ein ausgedehntes Wohnviertel im Süden von Mexiko-Stadt, dass Einkaufszentren, Universitäten und Schulen beherbergt. Eine davon ist, oder besser gesagt war, das Colegio Rébsamen, eine Privatschule mit Unterricht von Vorschule bis Sekundarstufe I. Still ist es in der Straße, ab und an fahren Autos am Standort der einstigen Schule vorbei. Links und rechts stehen Wohnhäuser. Ich stelle mein Rad ab, die Sonne scheint, über mir erfreut der für Mexiko-Stadt erstaunlich blaue Himmel das Herz. Eigentlich schön, wäre nicht die Ruine vor mir. Ein Mahnmal. Die Überbleibsel der Rébsamen-Schule erinnern seit zwei Jahren an eine Tragödie, die noch immer nicht aufgearbeitet ist.
Damals, am 19. September 2017, bebt mittags plötzlich die Erde im Zentrum des Landes mit einer Stärke von 7.1 – die Schockwellen verschonen auch die Hauptstadt nicht. Der „Temblor“, das Beben, trifft Mexiko-Stadt ausgerechnet am Jahrestag des großen Erdbebens – und wenige Stunden nach der alljährlichen Großübung im Gedenken an den desaströsen Temblor vor 32 Jahren. Auf dem Gelände der Privatschule halten sich zu diesem Zeitpunkt Kinder und Jugendliche in ihren Klassenräumen auf. Plötzlich knickt das direkt an der Straße stehende und älteste Gebäude der Einrichtung in sich zusammen. 26 Menschen sterben darin, 19 Kinder und sieben Angestellte. Tagelang graben Rettungskräfte nach Verschütteten, holen Überlebende aus den Trümmern. Doch für 26 kommt jede Hilfe zu spät.
[osm_map_v3 map_center= „19.2967,-99.1303″ zoom=“15.120223455212027″ width=“95%“ height=“450″ map_border=“thin solid “ post_markers=“1″ type=““ control=““ ]Es dauert nicht lange, und die Direktorin – und Besitzerin der Privatschule – wird als Schuldige gebrandmarkt. Sie hatte auf dem eingestürzten Bau ihre Privatwohnung errichten lassen. Ohne Genehmigung. Möglicherweise, so der Vorwurf, war der Zusatzbau für die Statik des Gebäudes zu viel. Es gibt aber auch Aussagen von Experten, die das nicht als Ursache ansehen. Die Wahrheit? Wird wohl irgendwann in einem Prozess ans Tageslicht kommen. Im Mai 2019 wird die Besitzerin der Schule schließlich nach monatelanger Flucht in Mexiko-Stadt festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. (Update 10. September 2020: Mittlerweile ist der Prozess angelaufen, ein Urteil wird demnächst erwartet)
September 2019: Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen, das eingestürzte Gebäude hingegen abgetragen. An der Wand klebt ein offizielles Plakat der Staatsanwaltschaft, mit dem sie die Beschlagnahme des Anwesens verkündete. Vorwurf: Totschlag. Auch die Kränze teile eine Botschaft mit, aber diese ist erschütternder: Sie tragen Vornamen, die der mutmaßlichen Opfer des Unglücks.
Die 26 des Rébsamen waren nicht die einzigen Opfer dieses Erdbebens. 370 Menschen starben beim Sismo des 19. September 2017, die meisten von ihnen in Mexiko-Stadt. Im Stadtgebiet kollabierten fast 40 weitere Gebäude, darunter ein Wohnblock, der beim Einsturz ebenfalls etliche Menschen in den Tod riss. Opfer gab es auch in anderen Städten Zentral-Mexikos.
Coapa selbst war – bedingt durch seinen schlammigen Untergrund – stark vom Erdbeben betroffen. Wer vom Colegio nur tausend Meter nach Westen oder Osten weitergeht, stößt auf das laute und bunte Alltagsleben Mexikos. Glitzernde Konsumtempel – Paseo Acoxpa, Galerias Coapa – locken mit Angeboten, am Straßenrand verkaufen Straßenhändler Tacos, Tortas und Tortillas für den kleinen Appetit. Der Verkehr dröhnt hier unentwegt, durch Coapa führen mehrere wichtige Verbindungsstrecken. Dass dieses Mittelschichtsgebiet noch vor 100 Jahren ein rein landwirtschaftliches Areal mit drei „Haciendas“ – großen Bauernhöfen – war, deren Felder im vergangenen Jahrhundert parzelliert und urbanisiert wurden, dürften Außenstehende kaum wissen – es ist auch mitten im Verkehrstrubel kaum vorstellbar.
Aber der Walmart-Supermarkt an der Straßenecke ist erst seit Kurzem wieder eröffnet. Die Vorgängerhalle war beim Erdbeben eingestürzt. Südlich der Schule starben beim Beben Studenten der angesehenen Privatuniversität Tecnológico de Monterrey, noch immer werden dort die beschädigten Anbauten saniert.
Und auch die Galerias, ein mehrstöckiges und kühles Einkaufszentrum, waren eineinhalb Jahre lang geschlossen. Das Erdbeben hatte den Komplex so sehr beschädigt, dass zeitweise sogar ein Abriss diskutiert wurde.
Was mit dem Gelände des Colegio Rébsamen passieren wird? Unklar, solange die Ermittlungen noch laufen. Es ist für den Betrachter kaum vorstellbar, dass hier nochmals eine Schule errichtet werden dürfte. Falls doch, dann unter Einhaltung der an sich strengen Regeln Mexikos für den Hausbau – eine Folge des Erdbebens von 1985: Damals kollabierten mehr als 200 Gebäude, auch aufgrund von Korruption und Schlampigkeit beim Hausbau. 3000 Menschen verloren damals ihr Leben. Der Staat versagte als Katastrophenmanager, die Zivilgesellschaft musste selbst die Hilfe organisieren.
Den Angehörigen der unter den Trümmern begrabenen Kinder des Colegio Rébsamen hilft dieser Vergleich nicht. Unter den Kränzen klebt ein handgeschriebener Zettel an der Holzmauer: „Se reconstruye una escuela. ¿Pero cómo se reconstruye un corazón sin vida?“ Eine Schule wird wiederaufgebaut. Aber wie repariert man ein lebloses Herz?
Miguel Castro/voyyestoy.com