Der „Septiembre“ ist in Mexiko-Stadt ein besonderer Monat – geschichtlich betrachtet. Ein Überblick zur Orientierung, wenn wieder mal Namen wie John Riley, Hidalgo, Iturbide und schließlich José José fallen – und welche Orte in der Stadt an sie erinnern.
9./10./13. September
Los geht es mit dem Batallón de San Patricio. Eine Plakette mit vielen Namen und eine Statue erinnern im Stadtteil San Angel an das sogenannte irische Bataillon und den verlorenen Krieg Mexikos gegen US-Invasionstruppen. Der entsprang Expansionsplänen der Politiker in Washington und dem ungelösten Streit um die Grenze des unabhängigen Texas, zuvor mexikanische Provinz. Von 1846 bis 1848 tobt der Krieg, am Ende muss Mexiko Kalifornien und endgültig Texas an die USA abtreten – ein riesiges Territorium, das verloren geht.
Das „Batallón de San Patricio“ war eigentlich eine US-amerikanische Truppe aus irisch- und deutschstämmigen Emigranten, die aber im Krieg die Seiten zu den ebenfalls katholischen Mexikanern wechselte. Fortan kämpfte sie unter ihrem Chef John Riley gegen die Nordamerikaner, musste aber 1847 vor den Toren Mexiko-Stadts nach der verlorenen Schlacht um das Kloster von Churubusco kapitulieren. Und die Invasoren nahmen blutige Rache für den Verrat: Etliche Soldaten des Bataillons wurden standrechtlich erschossen, die ersten am 9. und 10. September, weitere am 13. September. John Riley aber wurde verschont. Er starb zwei Jahre später im Hafenort Veracruz.
An die tapferen Iren erinnern die Mexikaner jedes Jahr mit Blumen und Kränzen am Monument in San Angel. Wer das Denkmal mit einer Büste von Riley sucht: es liegt an der Hinterseite des zentralen Marktplatzes von San Angel, auf dem samstags ein empfehlenswerter Kunstmarkt stattfindet.
13. September
Und damit tritt Juan Escutia in die September-Erinnerungstage ein: Der junge Mann ist Kadett der mexikanischen Militärakademie, die im Schloss von Chapultepec angesiedelt ist. Das ist ein Gebäude auf einer Anhöhe vor den Toren Mexiko-Stadts. Es ist die letzte Widerstandsbastion der Mexikaner, aber die Verteidiger der Akademie denken nicht daran, sich zu ergeben. Am 13. September 1847 greifen die US-Amerikaner das Schloss an – Ausgangspunkt für die Legende der „Niños heroes„, der heldenhaften Kinder.
Demnach hätten Escutia und seine Mitschüler ihr Leben für ihr Vaterland gegeben, sich also geopfert im Kampf gegen die überlegenen Yanquis. Esuctia soll sich dabei in eine mexikanische Fahne eingerollt von den Klippen des Schlosses in den Tod gestürzt haben, um sie nicht dem Feind zu überlassen. Jahre nach Kriegsende begann die Verehrung der jungen Offiziere, denen sechs Stelen am Fuße des Chapultepec-Schlosses errichtet wurden. Bis heute wird am 13. September hier der jungen Helden gedacht. Das Monument steht übrigens am Eingang zum Parque de Chapultepec, der grünen Lunge der Stadt, der sich hinter dem Schloss nach Westen ausdehnt.
15./16. September
Ob Priester Miguel Hidalgo sich in seiner Kirche, im Jahres 1810, hätte vorstellen können, dass die freiheitsliebende Republik der USA im Norden gegen sein Vaterland in den Eroberungskrieg ziehen würde? Wahrscheinlich nicht. Stattdessen war Hidalgo damit beschäftigt, das noch von Spanien abhängige Mexikos in die eigene Freiheit zu führen. Am frühen Morgen des 16. September begann er 300 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt den Unabhängigkeitsaufstand gegen die spanischen Oberherren.
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Auch wenn der Aufstand nicht in Mexiko-Stadt stattfand, so ist die Hauptstadt der zentrale Ort für das Gedenken: Am Präsidentenpalast in der Altstadt hängt die originale Glocke, mit der Hidalgo einst zum Aufstand rief – und vom Balkon darunter lässt der jeweilige Staatspräsident Mexikos Hidalgo und seine Mitstreiter an jedem 15. September (gegen 23 Uhr) hochleben.
19. September
Trauer statt Feier. Während der „Grito“ des 15. September für Feste in der ganzen Stadt sorgt, ist vier Tage später der 19. September untrennbar mit der Erinnerung an das monströse Erdbeben von 1985 verbunden. Damals starben beim Sismo del 19-S tausende Bewohner in den Trümmern ihrer Häuser. Also steht der 19. September jedes Jahr im Zeichen einer großangelegten Erdbebenübung. Geprobt wird die Evakuierung öffentlicher Gebäude und das Verhalten des Einzelnen. Ein durchdringender Sirenenton ertönt in der ganzen Stadt.
Doch 2017, wenige Stunden nach der Übung, bebte die Erde nach Jahren relativer Ruhe plötzlich zur Mittagszeit, und diesmal in Nachbarschaft zu Mexiko-Stadt. Es gab keine Vorwarnung. Auch diesmal starben Menschen, aber die allermeisten Gebäude hielten stand. Eine Schule allerdings stürzte ein und begrub 26 Kinder und Erwachsene unter sich. Die Toten des Colegio Rébsamen bleiben mit dem 19-S und dessen Aufarbeitung in Erinnerung. Seitdem wird der Opfer beider Erdbeben gedacht. Und den Bewohnern von Mexiko-Stadt dürfte seitdem noch stärker bewusst geworden sein, dass die jährliche Erdbebenübung alles andere als Routine ist.
26. September
Das heruntergekommene Zelt an der von Bürotürmen und Cafés geschmückten Prachtstraße Avenida Reforma sticht ins Auge, in dieser herausgeputzten Zone. Es steht vor dem einstigen Sitz der mexikanischen Staatsanwaltschaft PGR (das Gebäude wurde nach dem Erdbeben 2017 gesperrt) und erinnert an die 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa – mit Fotos und Infos.
200 Jahre nach Hidalgos „Grito“ sind die jungen Männer, Studenten einer ländlichen Lehranstalt für angehende Lehrer, am 26. September 2014 unterwegs nach Mexiko-Stadt. Ihre Akademie im ärmlichen Pazifik-Bundesstaat Guerrero, die „Escuela Normal de Ayotzinapa“, ist traditionell von linkem Gedankengut geprägt. Die Studenten wollen in die 300 Kilometer entfernten Hauptstadt reisen, um dort an einer Gedenkveranstaltung für massakrierte Studenten (im Jahre 1968) teilzunehmen. Dafür brauchen sie Busse, und die reißen sich die jungen „Normalistas“ wie üblich ohne Erlaubnis an sich. Heißt: sie kapern sie.
Doch 100 Kilometer weiter, im Örtchen Iguala, endet die Fahrt der Studenten am Abend des 26. September abrupt und blutig: Die städtische Polizei stoppt die Busse, eröffnet das Feuer und übergibt die festgenommenen jungen Männer an eine lokale kriminelle Bande. Bis heute ist nicht genau klar, was die Gründe dafür waren: Ob einer der Busse in Wirklichkeit Drogen im Kofferraum mit sich führte, die „Narcos“ in der Region in den Studenten Mitglieder einer anderen Gang vermuteten, der Bürgermeister von Iguala mit dem organisierten Verbrechen unter einer Decke steckte oder seine Frau sich von den Studenten in ihrer eigenen öffentlichen Feier an diesem Abend gestört fühlte.
Fakt ist: 43 junge Studenten wurden verschleppt – und verschwanden. Die Ermittler zogen damals den Schluss, dass sie von den Narcos ermordet worden seien, ihre Leichname zerstückelt und in einen Fluss geworfen. Doch das glaubt nicht jeder.
Bis heute sind die „43 de Ayotzinapa“ beziehungsweise ihre Leichname nicht wieder aufgetaucht. Das Verbrechen schockte die an tägliche Gewaltorgien gewöhnten Mexikaner. Verdächtige wurden festgenommen, der Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau sitzen seitdem in Haft, und die Eltern der Entführten protestieren aktiv für eine Fortführung der Ermittlungen. Der neue Präsident Mexikos, Andrés Manuel Lopez Obrador, unterstützt das. Sechs Jahre nach den Ereignissen lädt er Eltern in den Präsidentenpalast ein. Ermittlungen sind wieder angelaufen. Doch das mittlerweile arg ramponierte Zelt an der Avenida Reforma steht weiterhin und erinnert an die „43“.
27./28. September
Zurück ins beginnende 19. Jahrhundert: Hidalgo scheiterte mit seinem Aufstand gegen die Spanier. Mexiko sollte erst elf Jahre später, im Jahre 1821, seine Unabhängigkeit erringen, auch dies an einem Septembertag. Agustin de Iturbide, ein Offizier in spanischen Diensten, hatte die Seiten gewechselt. Im europäischen „Mutterland“ hatte eine Revolution ein Jahr zuvor liberale Kräfte an die Macht gebracht, und in Mexiko fürchtete die konservative Elite um ihre Pfründe. Iturbide, konservativer Gesinnung und Angehöriger der weißen Oberschicht Mexikos, war dieser Elite genehm, um Mexiko in eine (konservative) Unabhängigkeit zu führen. Bezeichnenderweise wollten die Verschwörer einen europäischen Prinzen auf den Thron des mexikanischen Imperiums setzen.
Also gewann Iturbide die Unterstützung der Rebellen und die des jüngst eingetroffenen Vertreters der spanischen Regierung, der erkennen musste, das Iturbide die Kolonialtruppen auf seiner Seite hatte. Mit dem vereinigten Heer beider Seiten zog Iturbide am 27. September 1821 an der Garita de Belén, einem Stadttor am südwestlichen Rand von Mexiko-Stadt, in die Hauptstadt ein. Einen Tag später unterzeichnete er die Unabhängigkeitserklärung. Das bis dato als „Vizekönigreich Neu-Spanien“ bezeichnete riesige Territorium war nun frei – sollte aber jahrzehntelang nicht zur Ruhe kommen und im Krieg gegen die USA eine schlimme Demütigung erfahren. Der Wohnsitz des Generals in Mexiko-Stadt, der Palacio de Iturbide, ist übrigens bis heute vorhanden. Er liegt an der Einkaufspromenade der Altstadt, der Calle Madero.
28. September
Nach so viel blutiger Geschichte nun ein Ausflug in die Musik – und in den Stadtteil Clavería im Nordwesten der Hauptstadt. Hier, im Bezirk Azcapotzalco, wächst in den fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Junge namens José Rómulo Sosa Ortiz auf. Schon bald macht er mit seinem musikalischen Talent auf sich aufmerksam, aber seinen internationalen Durchbruch schafft er 1970 unter seinem Künstlernamen „José José“ mit dem live im Fernsehen vorgetragenen Schlager „El triste“ (der Traurige).
Der Junge aus Clavería wird schlagartig berühmt, seine Platten verkaufen sich millionenfach. Leider verfällt er mit dem Erfolg auch dem Alkohol. Seine Sucht ruiniert seine Gesundheit, seine Stimme versagt. Am Ende lebt er zurückgezogen in Florida, wo er am 28. September 2019 an Krebs stirbt. Sein Tod stürzte vergangenes Jahr das Land kollektiv in Trauer, sein Leichnam wurde nach Mexiko-Stadt gebracht und im Konvoi in den Palast der schönen Kunste überführt, wo er aufgebahrt wurde. Die letzte Ruhe fand José José im Panteón francés.
Vor einem Jahr starb also der Prinz, wie José José unter Anlehung an den Titel eines seiner Hits auch liebevoll genannt wurde. Heute dürften Fans des Musikers zur Statue pilgern, die José José gewidmet ist – und die in seinem Stadtteil Clavería zu finden ist. Den Bericht findet ihr hier.
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