Wohl kaum ein anderes Unglück ist den Menschen in Mexiko-Stadt vom Erdbeben von 2017 so sehr in Erinnerung geblieben wie der Tod der Kinder der eingestürzten Schule „Colegio Enrique Rébsamen“ im Süden der Metropole. Heute jährt sich die Katastrophe zum dritten Mal – just am gleichen Tag wie das ebenso schlimme Erdbeben von 1985.
Frida Sofía, so hieß es, sei am Leben. Das Mädchen Frida Sofía habe den Einsturz der Schule „Enrique Rébsamen“ überlebt. Die Medien der Hauptstadt stürzten sich auf die vermeintliche Nachricht, stundenlang war Frida Sofía Schlagzeile – bis sich die medial enorm aufgeblasene Geschichte als Fake herausstellte. Es gab keine Frida Sofía (wie Twitter-User am dritten Jahrestag nochmals erinnerten). Wie das Gerücht entstanden war, ist bis heute unbekannt.
Aber der Tod von 19 Kindern und sieben Erwachsenen ist kein Fake: Sie starben tatsächlich in den Trümmern der Schule, die dem Erdbeben vom 19. September 2017, Stärke 7.1, nicht standhielt. Insgesamt 370 Menschen, 225 in Mexiko-Stadt, fielen dem Erdbeben zum Opfer. 26 davon im Colegio.
Colegio Rébsamen 2020: abgesperrt und verlassen
Vor einigen Wochen bin ich erneut am abgesperrten Gelände der Schule vorbeigefahren. Die private „Rébsamen“ liegt in einem ruhigen Wohnviertel, etwa in der Mitte zwischen den Einkaufszentren „Paseo Acoxpa“ und „Galerías Coapa“ (letztere waren nach dem Beben zwei Jahre lang gesperrt) zu finden. Eine Barriere aus Brettern schirmt noch immer das Gelände ab, und weiterhin ist es in Obhut der Ermittlungsbehörden. (Hintergrund und Eindrücke vor Ort von 2019 findet ihr in meinem Blog)
Die Ruine des damaligen Schulflügels, unter dessen Trümmern die Rettungskräfte am 19. September 2017 und den darauffolgenden Tagen die Leichen von 19 Schülern und Schülerinnen und sieben Erwachsenen fanden, ist mittlerweile abgerissen. Drinnen steht aber noch immer das Wrack eines Fahrzeugs, dass beim Sismo zerstört wurde. Während zwei weitere Häuser der Schule beim „Sismo“, dem Erdbeben, mehr oder weniger intakt blieben, stürzte der zur Straße orientierte älteste Flügel ein – und begrub die dort anwesenden Kinder unter sich. Der Grund: ein offenbar illegal auf dem Gebäude aufgesetztes weiteres Stockwerk. Es beinhaltete privat genutzte Räume der Direktorin, die zugleich Besitzerin der Schule war. Eine anscheinend zusätzliche Last für das alte Gebäude. Beim Erdbeben war das zuviel Gewicht.
Nun hat ein Gericht die Direktorin am vergangenen Freitag für schuldig erklärt. Sie hatte sich nach fast zwei Jahren auf der Flucht der Polizei gestellt und beteuert weiterhin ihre Unschuld. Das Gericht sah es anders. Am Montag In den nächsten Wochen wird das Strafmaß verkündet, die Staatsanwaltschaft fordert 57 Jahre Haft (die Mitteilung der Staatsanwaltschaft ist auf deren Website abrufbar). Außer gegen „Miss Moni„, wie die Direktorin allgemein bekannt war, ist aber bislang kein weiteres Urteil oder Anklage gegen möglicherweise an Baufehlern oder illegalen Bauten schuldige Firmen oder Behörden erfolgt – auch nicht in Bezug auf die weiteren Gebäude, die 2017 einstürzten.
- Direktorin zu 36 Jahren Gefängnis verurteilt
Update vom 19. September 2022: Das Gericht hat im Oktober 2020 das Strafmaß verkündet. Die Ex-Direktorin soll für 31 Jahre ins Gefängnis, zudem soll sie jeweils 400.000 Pesos (etwa 16.000 Euro) an die Angehörigen der Opfer zahlen. Sowohl die Verteidigung der Verurteilten als auch die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt kündigten damals Berufung an – die Verteidigung plädierte auf unschuldig, wie El Financiero mitteilt. Und den Anklägern ging das Strafmaß nicht weit genug.
Das Strafmaß wurde Medienberichten zufolge im August 2021 nach einer Berufung hochgesetzt, auf nun 36 Jahre, 4 Monate und zwei Tage. Derzeit sitzt die verurteilte Ex-Schulleiterin in einem Gefängnis in Mexiko-Stadt ihre Strafe ab.
Ein für den Bau der Schule verantwortlicher Bauleiter (spanisch „Director Responsable de Obra“ (DRO)) befindet sich seit 2018 auf der Flucht, im August 2022 wurde die auf ihn aufgesetzte Belohnung seitens der städtischen Staatsanwaltschaft auf 1 Million Pesos erhöht. Ein weiterer DRO ist bereits zu einer jahrzehntelangen Haftstrafe verurteilt worden, im Mai 2022 wurde sein Strafmaß auf 70 Jahre Gefängnis reduziert. Die DRO sind unabhängig bestellte Architekten oder Bauingenieure, die ein Bauprojekt überwachen und protokollieren (mehr zum Thema hier).
Das Besondere des heutigen Tages ist aber nicht nur die schmerzhafte Erinnerung an dieses Unglück, vor allem für die Eltern der getöteten Kinder. Am gleichen Tag, und nur wenige Stunden vorher, erschütterte 1985 ein ebenso starkes Erdbeben die Hauptstadt. Der Sismo von 1985 forderte wesentlich mehr Opfer, zerstörte etliche Gebäude und legte die Unfähigkeit der damaligen mexikanischen Regierung offen, der Bevölkerung rasch und angemessen zu helfen. Die Menschen halfen sich damals selbst, fünfzehn Jahre später wählten sie erstmals in der Geschichte des modernen Mexiko die jahrzehntelang regierende faktische Staatspartei PRI ab.
Simulacro an jedem 19. September
Wer mal das grandiose Wandbild „Ein Nachmittagstraum im Alameda-Park“ von Diego Rivera im Stadtzentrum bestaunt hat: Das riesige „Mural“ hing eigentlich in der Lobby eines Hotels, das 1985 einstürzte – das Gemälde überstand die Katastrophe und wird heute in einem eigens dafür errichteten Gebäude in der Nähe präsentiert. Der Platz vor dem neuerrichten Gebäude, ein schattiger Park, war übrigens der Standort des Hotels, an das nichts mehr erinnert.
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Seit dem Sismo von 1985 halten die Behörden am 19. September immer einen „Simulacro“ ab, eine Erdbebenübung, um das Verhalten im Krisenfall trainieren zu können. Ein durchdringender Sirenenton (wie er klingt, könnt ihr in diesem Youtube-Video hören) ertönt in der ganzen Stadt, in Schulen und Behörden nehmen Anwesende eine Schutzhaltung ein oder gehen ins Freie, je nachdem was vorgegeben ist. Die Sirene ist Teil eines Vorwarnsystems, gedacht für Beben in entfernteren Landesteilen wie das von 1985.
Ich war mal bei einem Workshop zum richtigen Verhalten im Erdbebenfall dabei: Der Leiter betonte, dass Fenster keine guten Schutzbereiche wären (das Glas könnte splittern), besser seien stabile Ecken eines Raumes. Dann brüllte er plötzlich „Erdbeben!“. Und wo renne ich als Newbie hin? In eine Ecke direkt neben einem Fenster … bei der zweiten Übung wusste ich es besser und duckte mich sofort unter einen Tisch.
Verhalten bei Erdbeben
- Generell im Freien und im Innern auf mögliche Fluchtwege und Schutzbereiche achten. Im Falle eines Erdbebens sind beispielsweise Räume unter Stromleitungen ungeeignet.
- Ertönt die Sirene in Mexiko-Stadt: Ruhe bewahren. Nicht in Panik verfallen. Sobald die Sirene ertönt, verbleiben etwa 20 bis 40 Sekunden, bis das Beben Mexiko-Stadt erreicht. Beim Erdbeben im Juni 2020 waren es sogar 62 Sekunden – unter Umständen also Zeit genug, um ein Gebäude zu verlassen.
- Derzeitige Aktivität sofort (!) unterbrechen und – wenn möglich – ins Freie gehen.
- Wenn der Aufenthalt in einem höhergelegenen Raum (ab 2. oder 3. Stockwerk) eine Evakuierung ins Freie erschwert, sollte man besser im Gebäude bleiben – die Gefahr besteht, bei der Evakuierung auf einer Treppe oder im Fahrstuhl von den Erdstößen überrascht zu werden.
- In diesem Fall im Raum eine Schutzhaltung einnehmen (sich hinknien und Hände über dem gesenkten Kopf halten), bis das Beben abklingt – idealerweise unter einem Tisch oder direkt an einem tragenden Bauelement (Ecken, Säulen, Türrahmen). Nicht empfohlen werden instabile Bereiche wie Fenster, Regale oder Trennwände. Der Zivilschutz der Stadt hat diese und weitere Empfehlungen in einem PDF zusammengefasst (spanisch)
Erdbeben 2017 zu nah an der Stadt
Auch die Kinder des „Rébsamen“ dürften diese Übung am 19. September abgehalten haben. Nur eine Übung, dürften damals viele gedacht haben. Gehen wir halt raus und stehen 15 Minuten draußen am Sammelpunkt.
Als kurz darauf, zur Mittagszeit um 13.14 Uhr, die Erde ohne Vorwarnung (das Beben lag zu nahe an der Stadt) tatsächlich bebte, saßen die Schüler wieder im Gebäude.
Autor: Miguel Castro/voyyestoy.com (aktualisiert 15. Oktober 2020)
Archiv 2019: Colegio Rébsamen: Eine Ruine und Fragen